Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. November 2016, Teil 7

Andreas Steinhöfel

Hamburg (WEltexpresso) - »Und mein Vater...«, fahre ich fort. »Es ist nicht so, als hätte ich nie versucht, etwas über ihn rauszukriegen. Aber Glass macht dann einfach dicht.«


»Es nervt dich, oder?«


»Irgendwie schon«, gebe ich widerwillig zu. Dass Nummer Drei sie hatte sitzen lassen, ist der einzige mir bekannte Grund, der meine Mutter zum Sprung über den Großen Teich bewegt hat. »Es ist so ... unvollständig.«


Ich denke an die Liste, die ich vor einigen Jahren zufällig zwischen Glass' Papieren gefunden habe, eine Liste, die ihre Männer aufführte, säuberlich durchnummeriert und mit Namen und den Daten versehen, an denen, wie ich annahm, Glass mit ihnen geschlafen hatte. An einer Stelle stand lediglich eine Zahl. Es war ein Leichtes gewesen, vom Tag meiner und Diannes Geburt bis zu dem Datum zurückzurechnen, das neben der Nummer Drei stand.


Ich weiß nicht, ob diese Liste heute noch existiert. Damals hatte sie etwa fünfzig Einträge. Ob das eine große oder kleine Zahl ist, vermochte ich nicht zu beurteilen. Auf mehr als zehn Jahre verteilt erschienen mir fünfzig Affären nicht besonders viel, was daran liegen mochte, dass die wenigsten Männer, wenn Glass sie überhaupt mit nach Hause gebracht hatte, öfter als einmal in Visible aufgetaucht waren. In meiner Erinnerung schieben sich ihre Gesichter wie graue Phantomzeichnungen übereinander, vage und austauschbar. Sie haben keinen Anteil an meinem Leben genommen, und so bleiben sie, auch wenn sie Namen besitzen, letztendlich dasselbe für mich, was sie für Glass waren: Nummern auf einem weißen Blatt Papier. Natürlich gibt es Ausnahmen — Martin mit den grünen Augen und dem Geruch nach Gartenerde ist eine davon, und später war da Kyle, der Bogenschnitzer mit den schönen Händen —, doch über allen Ausnahmen thront jener Mann, der anstelle eines Namens mit der Zahl Drei auf der Liste steht.


»Hättest du gerne einen? Einen Vater?« Kat hat etwas Moos aus den Mauerritzen gezupft, das sie zwischen den Fingern zu einer kleinen grünen Kugel zusammenrollt. »Ich meine, vermisst du ihn irgendwie?«


»Wie sollte ich ihn vermissen?«, schnappe ich. »Ich hab ihn schließlich nie gekannt.«


Kat weiß sehr genau, dass sie in gefährlichen Gewässern fischt. Sie kann ein echtes Miststück sein. Mit dreister Beharrlichkeit wird sie ihre Finger auf genau die wunden Stellen meiner Seele legen, vor denen selbst ein Psychiater zurückschrecken würde. Schwarze Löcher. Komm ihnen zu nahe, und bevor du weißt, wie dir geschieht, verschlucken sie dich. Doch was für mich schwarze Löcher sind, nennt Kat >weiße Flecken auf der Landkarte deiner Psyche<. Geduldig füllt sie diese Flecken aus, wann immer sich ihr eine Gelegenheit dazu bietet, und es kümmert sie herzlich wenig, wenn sie dabei Grenzen übertritt.
So wie jetzt.


»Du weißt immerhin, dass er in Amerika lebt«, bohrt sie weiter.


»Amerika ist groß«, sage ich gereizt. »Und dass er noch lebt, ist nur eine Vermutung. Also jetzt tu mir einen Gefallen und halt endlich die Klappe, okay?«
»Okay. Friede.« Die Mooskugel wird entschlossen weggeschnippt, sie trudelt auf der warmen Luft nach unten und landet am Fuß der Schlossmauer zwischen den Brennnesselbüschen. Ich erhalte ein versöhnliche Großaufnahme der Zahnlücke. »Vanilleeis?«


Info:
Aus dem Roman: Andreas Steinhöfel, Die Mitte der Welt, Hamburg: Carlsen Verlag, 2004, S. 30-32