Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 15. Dezember 2016, Teil 6

Kirsten Liese

Berlin (Weltexpresso) - Die Praxis ist schon geschlossen, da klingelt es an der Tür. Jenny Davin (Adèle Haenel) weist ihren Praktikanten an, sie nicht mehr zu öffnen. Sie hat ihre Patienten ohnehin schon weit über die Sprechzeiten hinaus behandelt. Ein ungewöhnlicher Vorgang ist das nicht, auch eine Ärztin wird einen Feierabend für  sich beanspruchen dürfen, zumal wenn sie sich beruflich derart engagiert  wie diese junge, gewissenhafte Frau, die sich in einem armen Viertel der belgischen Provinz in Lüttich niedergelassen hat und sich nicht einmal ein Privatleben gönnt.

Ihre Wohnung liegt direkt unter der Praxis.


Aber als sie am nächsten Tag erfährt, dass eine schwarze Migrantin bei ihr Schutz gesucht hatte, die kurz darauf ums Leben kam und wahrscheinlich ermordet wurde, macht sie sich schwere Vorwürfe wegen unterlassener Hilfeleistung. Obwohl sie diese Tragödie nicht ahnen konnte, steigert sie sich derart in ihre Schuldgefühle hinein, dass sie nicht nur die Kosten für die Beerdigung der jungen Afrikanerin übernimmt, sondern auch auf die Karriere an einer renommierten Klinik verzichtet und, parallel zur Polizei, nach dem Täter ermittelt. Darin liegt etwas Pathologisches. Aber die berühmten Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne bewerten das Verhalten anders. Ihr jüngstes Werk ist ein gut gemeinter, aber didaktisch allzu aufdringlicher Aufruf zu mehr Mitmenschlichkeit und gesellschaftlichem Engagement wider die Gleichgültigkeit und Rassismus.


Seit drei Jahrzehnten solidarisieren sich die Belgier in ihrem Sozialkino auf sympathische, intelligente Weise mit den Verlierern des kapitalistischen Systems. Mit „Rosetta“ (1999), „Das Kind“ (2005) oder „Zwei Tage, eine Nacht“ (2014) schufen sie preisgekrönte, subtile, tiefgründige Meisterwerke. Diesmal aber legen sie einen übertriebenen sozialromantischen Idealismus an den Tag. Ihre zum Vorbild erhobene Heldin gibt dafür den Maßstab.


Nicht jeder beruflich stark Ausgelastete verfügt über vergleichbare Reserven, um nach der Arbeit noch Aufgaben zu übernehmen, die der Kriminalpolizei obliegen. Bei alledem könnte es sich als gefährlich erweisen, einem wildfremden Menschen die Tür zu öffnen.


Auch die Protagonistin bringt sich in Gefahr, als sie ihre Spurensuche auf das illegale Drogen- und Prostituiertenmilieu ausdehnt. Nach einem Bordellbesuch bedrohen sie zwei gewaltbereite Schwarze, was sie aber nicht davon abhält, ihre Fahndung fortzusetzen. Für diesen außerordentlichen Mut belohnen sie die Regisseure freilich am Ende, darauf läuft der durchschaubare, nicht sehr glaubwürdige Film hinaus. Cleverer als die Polizei, stellt Jenny den Täter und ringt ihm sogar einen Funken Reue ab.


Abgesehen von seinem moralisch überhöhten Anspruch krankt „Das unbekannte Mädchen“ an einer dürren Geschichte. Ein Krimi schwebte dem Regie-Duo vor, aber die dafür gebotene spannungsreiche Dramaturgie will nicht gelingen. Zu lange reduziert sich die minimalistische Handlung allein darauf, der Ärztin minutiös dabei zuzusehen, wie sie Patienten behandelt oder danach aushorcht, ob sie das Opfer kannten und in der schicksalsreichen Nacht gesehen haben. Über ihre sich wiederholenden, eintönigen Fragen erlischt das Interesse an der Figur und am Fortlauf des Geschehens.


Angesichts dessen wirkt auch die vielgepriesene Adèle Haenel, die nach der Weltpremiere in Cannes den Preis für die beste Hauptdarstellerin entgegen nahm - wiewohl sie die Aktivitäten der Ärztin präzise nachzeichnet - in ihrem schauspielerischen Können unterfordert.


Neben einem so starken Frauenporträt wie „Rosetta“ verblasst „Das unbekannte Mädchen“, aber es wäre auch zuviel verlangt, von renommierten Filmemachern ausschließlich grandiose Werke zu erwarten.