Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Januar 2017, Teil 6

Corinne Elsesser

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wer Katsushika Hokusais Holzschnitt "Traum der Fischersfrau" von 1814 kennt, der nur wenige Jahre später den belgischen Künstler Félicien Rops so sehr faszinierte, dass er ihn als Vorbild für seine Zeichnung "Der Blutsauger" nahm, der kann sich auf das Ende des Films "Die Taschendiebin" freuen.

Dann nämlich führt uns der südkoreanische Regisseur Park Chan-wook hinab in die geheimen unterirdischen Gemächer des Anwesens von Herrn Kouzuki, wo ein lebendiges Exemplar eines Riesentintenfischs in einem viel zu eng bemessenen Aquarium wohnt. In Hokusais Bild ist ein Tintenfisch sinnliches Objekt der Begierde einer träumenden Fischersfrau. Im Film symbolisiert er den Schauder, der die junge Frau bei seinem Anblick überkommt. Schon will man sich über die Tierquälerei echauffieren, da tritt einem in ungleich schärferer Form die Menschenquälerei vor Augen. Im seelischen Schock der jungen Frau und im körperlichen Schmerz, dem der auf dem Anwesen weilende falsche Graf Fujiwara gleich darauf ausgesetzt wird, wenn ihm mittels eines eisernen Schneidegeräts ein Finger nach dem anderen kupiert wird. Angesichts des Tintenfischs im engen Glaskasten hat auch der Zuschauer bis dahin einiges überstanden, was ihm im Verlauf der Filmhandlung an erotischen Schockstössen zugemutet worden war.


Die Filme von Park Chan-wook haben nicht nur in Korea Kultstatus. "Oldboy" wurde 2003 auf dem Filmfestival in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. 2009 erhielt "Durst" den Grossen Preis der Jury. In seinem neuen Film erzählt der Regisseur die Geschichte der Taschendiebin Sookee (Kim Tae-ri), die von ihrem Hehler (Ha Jung-woo) beauftragt wird, als Dienstmädchen die Japanerin Hideko (Kim Min-hee) auszuspionieren, die abgeschirmt auf dem Anwesen ihres Onkels Kouzuki (Cho Jin-woong) in Korea lebt, um sie dann gemeinsam ihres Erbes zu berauben.


Doch scheinen sich die Dinge anders zu entwickeln. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine zärtliche und mithin erotische Annäherung. Kaum wähnen sich die hinterlistige Taschendiebin Sookee und ihr Hehler, der sich Kouzuki gegenüber als Graf Fujiwara ausgibt, ihrem Erfolg nahe, nimmt die Geschichte unerwartet eine Wendung und wird von ihrem Ende her noch einmal erzählt.


Dies lässt an Akira Kurosawas Film "Rashōmon" denken, der die Filmhandlung aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Doch Park Chan-wook führt jeden stringenten Handlungsablauf ad absurdum und den Zuschauer damit auf immer dünneres Eis, von dem einzig die Lüge zu retten vermag.


Darauf spielt der deutsche Titel "Solange du lügst" des für das Drehbuch adaptierten Kriminalromans "Fingersmith" von Sarah Waters an. Park Chan-wook übertrug in Zusammenarbeit mit seinem Drehbuchautor Chung Seokyung die im viktorianischen England spielende Geschichte in das Korea der Kolonialzeit. Vor dem Hintergrund hochästhetisch arrangierter Interieurs (Szenenbild: Ryu Seong-hee), die von ruhigen Kamerabewegungen (Kamera: Chung Chung-hoon) eingefangen werden, verbindet sich die ausschweifende Erotik mit Motiven de Sades. Nicht allein in den Phantasien der Zuhörer an den von Kouzuki veranstalteten Lesungen erotischer Literatur. Sondern weitaus unverhüllter in den Liebesszenen der beiden Frauen, deren Innigkeit möglicherweise eine weitere Wendung der Erzählung hätte bewirken können, die der Regisseur allerdings nur andeutet.

Info:
Die Taschendiebin (Originaltitel: Agassi), Südkorea, 2016
Nach dem Kriminalroman "Solange du lügst“ von Sarah Waters
Regie: Park Chan-wook
Drehbuch: Chung Seokyung, Park Chan-wook
Darsteller: Kim Tae-ri, Ha Jung-woo, Kim Min-hee, Cho Jin-woong, u.a.
Kamera: Chung Chung-hoon
Szenenbild: Ryu Seong-hee
Musik: Cho Young-wuk
Produktion: Moho Film, Yong Film
Länge: 145 Minuten