Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 26. Januar 2017, Teil 18
Filmheft
Rom (Weltexpresso) - Es finden sich im Presseheft weitere interessante Artikel zu Rom und seiner Affinität, geschichtlich und heute, zu Verbrechen. Eine Ausführung ist überschrieben mit ZUR GESELLSCHAFTSKRITIK IN SUBURRA, was wir hier veröffentlichen. Die Redaktion
Mit SUBURRA unternimmt Stefano Sollima eine filmische Reise, die mit ihrer Darstellung einer korrupten wie exzessiven Gesellschaft einen erschütternd realistischen Einblick in die Abgründe menschlicher Amoral eröffnet. Eine der imposantesten Besonderheiten an Sollimas
verführerischem Bilderrausch, der die ewige Stadt Rom als einen dunklen, manchmal abstoßenden, aber dennoch auch betörend prächtigen Mythos
inszeniert, liegt vor allem darin, den Blick nicht allein auf die Mafia als traditionelle „Verkörperung des Bösen“ zu verengen, sondern eine mafiöse
Mentalität innerhalb der gesamten Gesellschaft anzuprangern.
Sollimas Film lässt keinen Zweifel daran, dass die Mafia zwar das radikalste
Konzentrat des organisierten Verbrechens darstellt; sie jedoch ohne Anbindung und Unterstützung aus anderen Teilen der Gesellschaft nicht die
Macht ausüben könnte, die ihr zugesprochen wird. SUBURRA reiht sich damit in eine lange Tradition der italienischen Kultur von zahllosen
Reportagen, Romanen, Filmen und Serien ein, die mithilfe der Mafia der gesamten Gesellschaft einen Spiegel an der Grenze zwischen Realität und
Fiktion vorhalten. Denn genau diese Schnittstelle bildet das reizvollste Fundament des „Mythos Mafia“.
Besonders in den letzten Jahren wurden viele auch hierzulande einem größeren Publikum bekannte Bücher, Filme und Serien herausgebracht, die
sich an der Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion mit der Rolle der Mafia kritisch auseinandersetzen. 2013 erschien mit „Suburra“ von
Giancarlo De Cataldo und Carlo Bonini die Romanvorlage zum Film, aber schon 2006 legte Roberto Saviano mit „Gomorrha. Reise in das Reich der
Camorra“ („Gomorra“) einen internationalen Bestseller vor. Seine profunden, unter dem Einsatz seines eigenen Lebens journalistisch exakt
beschriebenen Enthüllungen über die Strukturen der neapolitanischen Mafia, dienten auch als Vorlage für Matteo Garrones gleichnamige
Filmadaption von 2008 sowie die von Stefano Sollima gedrehte und von Kritikern hochgelobte Mafiaserie GOMORRHA („Gomorra – La serie“, seit
2014). Garrone, der wie Sollima zu den ambitioniertesten Regisseuren seiner Generation zählt, gewann mit seiner filmischen Umsetzung des
Buches bei den Filmfestspielen von Cannes 2008 den Großen Preis der Jury.
Im Gegensatz zu Garrone und Sollima erzählt Savianos Reportageroman keine fortlaufend durchdramatisierte Geschichte, sondern verbindet virtuos
die Recherche nach realen, höchst grausamen Praktiken der Mafia mit einer Spiegelung ihrer Mythen. Auf diese Art konfrontiert Saviano Realität und
Fiktion direkt miteinander und demaskiert viele Legenden, die sich etwa um den Ehrbegriff der Familienclans ranken. Sollimas Serie GOMORRHA
führt diesen Ansatz konsequent weiter. Sie erzählt zwar eine zunächst eindeutig fiktive Geschichte um eine neapolitanische Mafiafamilie, behält
jedoch den kritischen Blick auf die gesamte Gesellschaft und den Ansatz einer Demaskierung des Mythos mit einer schonungslosen Realitätsnähe
bei. Der vor allem durch amerikanische Filme oft verklärte Blick auf die Mafia als zwar brutale, dennoch aber auch „bewundernswerte“
Bruderschaft, wird von Saviano wie Sollima gnadenlos entlarvt. In der Mafia gibt es keine Ehre und keine familialen Banden, denn es zählt allein der
Profit und das eigene Ego an der Spitze der Nahrungskette. Anders als die mit insgesamt 10 Staffeln bisher langlebigste italienische Mafiaserie
ALLEIN GEGEN DIE MAFIA („La Piovra“, 1984-2001) konzentriert sich Sollima in GOMORRHA - DIE SERIE und SUBURRA nicht darauf, das
Geschehen aus Sicht der Ermittler zu erzählen, sondern fokussiert sich ganz auf die Eigendynamiken und Grenzüberschreitungen zwischen Mafia und
Gesellschaft.
Neben Saviano tat sich in den letzten Jahren vor allem Giancarlo De Cataldo als Autor sowohl realitätsnaher, gesellschaftskritischer wie auch
gleichzeitig spannend erzählter Romane zum Thema Mafia hervor. Zusammen mit dem Investigativ-Journalist Carlo Bonini schrieb der
hauptberuflich als Richter arbeitende De Cataldo neben „Suburra“ (2013) mehrere Romane wie „Schmutzige Hände“ („Nelle mani giuste“, 2007), „Zeit
der Wut“ („La forma della paura“, 2009) und „Der König von Rom“ („Io sono il Libanese“, 2012), die allesamt im Rahmen einer Fiktion auf wahren
Begebenheiten und Fällen basieren, die De Cataldo und Bonini recherchiert oder (vielleicht) sogar selbst erlebt haben.
De Cataldo, der bezeichnenderweise ähnlich wie Saviano mit seinem Kriminalroman „Romanzo criminale“ die Vorlage zu einer der berühmtesten Mafiaverfilmungen und Serien gleichen Namens lieferte, bei der auch Stefano Sollima Regie geführt hat, entwirft in seinen Romanen komplexe Szenarien einer mafiösen Verstrickung von Kirche, Politik und Wirtschaft, die immer wieder von der Aktualität ein- oder sogar überholt werden. Denn
als erst zu Beginn diesen Jahres ans Licht kam, dass der römische Stadtrat von Mitgliedern der Mafia unterwandert ist und dass hochdotierte Aufträge
für Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen an wegen Mordes vorbestrafte Gangsterbosse zugeschanzt wurden, sahen nicht wenige
Kommentatoren deutliche Parallelen zu De Cataldos oder Savianos Büchern.
Auch Carlo Boninis alleinige Recherchen basieren sehr stark auf realen Fakten, die dann in fiktionaler Form verarbeitet werden. So schrieb er das von Stefano Sollima kurz darauf verfilmte Buch „ACAB. All cops are bastards“, das mit Fokus auf eine Eliteeinheit der Polizei einen nicht minder kritischen Blick auf die Probleme des italienischen Rechtssystems wirft und gravierende Missstände in der Polizeiarbeit anprangert. Ob Saviano, De Cataldo, Bonini oder andere Autoren der jüngeren Vergangenheit oder Gegenwart: Sie alle eint ein differenzierter Blick auf ein eklatant virulentes Problem innerhalb einer komplexen Gesellschaftsstruktur, das keine einfachen Antworten zulässt.
Stefano Sollimas SUBURRA ist letztlich ein meisterhaftes Substrat, das all diese Tendenzen zu einem hypnotischen Abgesang auf eine moralisch
verkommene Gesellschaft in sich aufnimmt und den Zuschauer ohne Kompromisse in eine Welt wirft, die abseits der Gewaltexzesse sehr häufig
näher an der Realität angesiedelt ist als es auf den ersten Blick scheint. Ganz im Stile der Kulturkritik großer italienischer Autorenfilmer wie
Federico Fellini mit DAS SÜSSE LEBEN („La Dolce Vita“, 1960) oder in jüngerer Vergangenheit Paolo Sorrentino mit LA GRANDE BELLEZZA – DIE
GROSSE SCHÖNHEIT („La Grande Bellezza“, 2013) inszeniert Sollima mit SUBURRA ein rauschendes und in mehrfacher Hinsicht atemberaubendes
Portrait der ewigen Stadt Rom mit all ihrer Doppelbödigkeit. Doch Sollimas Bildern der Dekadenz wohnt auch ein Stück Hoffnung inne. So ist es
ausgerechnet die in SUBURRA mit den ersten Bildern der verregneten Straßen Roms beschworene Apokalypse, die nach dem Untergang letztlich
einen Neuanfang verspricht.
Foto: (c) Verleih
Info:
Ein Film von Stefano Sollima
Mit:
Pierfrancesco Favino, Elio Germano, Claudio Amendola, Alessandro Borghi, Greta Scarano, Giuila Elettra Gorietti, Antonello Fassari, Jean-Hugues Anglade
Der Film basiert auf dem Roman SUBURRA.SCHWARZES HERZ VON ROM von Giancarlo de Cataldo und Carlo Bonini aus dem Folio Verlag 2015. Das Buch war sofort erfolgreich und hielt sich auch auf der KrimiBestenListe, die damals die ZEIT herausgab und die heute in der FAS erscheint.