67. BERLINALE vom 9. bis 19. Februar 2017, WETTBEWERB, Teil 2
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Völlig unerwartet wurde mir dieser Film, von dem ich über die schrecklichen Schlachtszenen gelesen hatte, zu einem tiefen Kinoerlebnis, für das man die ungarische Regisseurin und ihre Schauspieler nur bewundern kann.
Tatsächlich spielt die Handlung in einem Schlachthaus in Budapest und alle Szenen vom Zusammenpferchen der Rinder und Kälber, von ihrer Tötung und dem Schlachten in diesem Massenbetrieb, einer industriellen Mordmaschinerie, sind so unerträglich, daß auf jeden Fall ich mir die Augen immer zu halten mußte. Aber es ist ja blutige Realität. Und wird von Regisseurin Ildikó Enyedi sehr absichtsvoll eingesetzt und gegenübergestellt den traumhaft fotografierten winterlichen Szenen im Wald, wo wir immer wieder in Sequenzen einen prächtigen Hirsch und eine sanfte Hirschkuh sehen, die einerseits die Freiheit der Tiere in ihrer angestammten Welt zeigen, aber auch Hingezogenheit zum anderen Geschlecht und ein gewisses Balzverhalten.
Sehr viel komplizierter findet das bei den Menschen statt. Der etwas ausgemergelte Fünfziger Endre ist der gute Geist im Betrieb und das, obwohl er Vorgesetzter ist. Überrascht nimmt er ein neues Gesicht zur Kenntnis: eine blonde, blasse, dünne Mária ist als Qualitätsprüferin für die Schlachtungen zuständig und von der Haarspitze bis über das Verhalten und das ungelenke Kommunizieren – ach was, sie kann einfach nicht – sehen wir einen in sich verkastelten, extrem spröden Menschen, der bei jeder Berührung zusammenzuckt und erstarrt. Krankhaft, nicht nur schüchtern.
Mária fällt gleich unangenehm auf. Erstens setzt sie sich zu niemanden an den Tisch – ein Großteil des Films spielt in der Kantine - , dann ist sie bei den Messungen des Fettanteils so streng, daß kein Qualitätsfleisch mehr übrige bleibt – alles zweitklassig, was dem Betrieb und seinem Ruf schadet. Außerdem geht es gerademal um 1-2 Millimeter Fett zu viel. Sie ist der Zwangscharakter, der anale, wie er im Buche, will sagen bei Freud steht. Andererseits hat sie ein hervorragendes Gedächtnis und kann auch Wochen später noch alle Sätze aufsagen, die Endre an sie richtete. Natürlich ist auch das zwangshaft.
Wir werden nun Zeugen seiner sanften Werbung, einer schlichten Werbung um ein nettes Wort, ein Gespräch, das sie ja eigentlich auch will, aber sich so unfähig zeigt, daß sie sogar zum Psychiater geht, der aber für Kinder und Jugendliche zuständig ist und ebenfalls fassungslos zusieht, wie diese junge Frau sich immer stärker einschnürt, statt daran zu arbeiten, wovor sie eigentlich so große Angst hat, daß sie nicht normal leben kann.
Eine kleinere Krimihandlung bringt dann so köstliche Szenen, daß man mitten drinnen merkt, daß man immer wieder lacht, weil Verhalten von Menschen, so feinsinnig vorgebracht, eine regelrechte Situationskomik entfaltet. Einer der Gedankenblitze des Drehbuchs ist die Befragung aller Mitarbeiter zur Aufklärung des oben angesprochenen Diebstahls. Aber was da mit den Träumen der beiden und den von uns geschauten Hirschbildern, die sich als die identischen Träume der beiden entpuppen, an Dynamik im Film losgeht, hält elegant die Spannung bis zum Ende.
Das ist ein Film, der völlig anders ist, als die Erwartung war, mit wunderbaren schauspielerischen Leistungen, die besonders in den Augen der Alexandra Borbély (Mária) liegen, die ja von der Rolle her sich so stocksteif bewegen muß, daß die Augen die Kommunikation mit der Welt übernehmen müssen, was diesen Augen gelingt. Es geht also im Kern um zwei einsame Menschen, die nicht aufgeben, im anderen dann doch den zu finden, den sie zu hoffen wagten, was eine große Frustrationstoleranz für beide mit sich brachte und für den Zuschauer einen richtig guten Film.
Aus der Pressekonferenz ist zu berichten, daß die Begeisterung der Journalisten über diesen Film herauszuhören war und die Regisseurin mit ihren beiden Hauptdarstellern eine äußerst fundierte Analyse der eigenen Arbeit leistete und man zudem viele Erklärungen, die man sich selber gesucht hatte, dann noch bestätigt erhielt. Erstaunlich, dieser Film.
Foto: (c)
Info:
Ildikó Enyedi
Ungarn 2017
Ungarisch
116 Min · Farbe
Mit
Alexandra Borbély (Mária)
Géza Morcsányi (Endre)
Réka Tenki (Klára)
Zoltán Schneider (Jenő)
Ervin Nagy (Sándor)
Itala Békés (Zsóka, Putzfrau)
Éva Bata (Jenős Frau)
Pál Mácsai (Detektiv)
Zsuzsa Járó (Zsuzsa)
Nóra Rainer-Micsinyei (Sári, Arbeiterin im Schlachthaus)
Stab
Regie, Buch
Ildikó Enyedi
Kamera
Máté Herbai
Schnitt
Károly Szalai
Musik
Ádám Balázs
Sound Design
Péter Lukács
Ton
János Kőporosy
Production Design
Imola Láng
Kostüm
Judit Sinkovics
Maske
Orsolya Petrilla
Casting
Irma Ascher, Zsófia Muhi
Regieassistenz
István Kolos
Production Manager
Sándor Baló
Produzenten
Monika Mécs, András Muhi, Ernő Mesterházy
Ausführender Produzent
András Muhi
Biografie
Ildikó Enyedi
Geboren 1955 in Budapest. Begann ihre Karriere als Konzept- und Medienkünstlerin und wandte sich später als Regisseurin und Drehbuchautorin sowohl dem Kurz- als auch dem Spielfilm zu. Für ihre Arbeiten gewann sie über 40 internationale Preise. Ihr Film My 20th Century von 1989 wurde unter die besten ungarischen Filme aller Zeiten gewählt. 1992 war sie Mitglied der Internationalen Jury der Berlinale. Sie unterrichtet Film in Meisterklassen und an der Theater- und Filmhochschule in Budapest und ist Gründungsmitglied der European Cross Media Academy sowie Mitglied der European Film Academy.