67. BERLINALE vom 9. bis 19. Februar 2017, WETTBEWERB, Teil 3
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Auch der zweite Film am zweiten Tag des Wettbewerbs steckte voller Überraschungen. Damit soll gesagt sein, daß auch dieser Film sich anders entwickelte, als durch den Anfang vorgegeben und vor allem die Charaktere zum Schluß hin eine andere Struktur und Deutung erhalten, als der Zuschauer vermutet. Spannend.
Das sagen wir deshalb so dezidiert, weil derzeit – ausgehend von sehr breit erzählten Hollywoodfilmen mit großen Gesichtern auf großer Leinwand – eine Art des filmischen Erzählens überhand nimmt, wo man mit den ersten Bildern schon weiß, wohin die Reise geht. Das zum Beispiel ist einer der Kritikpunkte bei dem von vielen geradezu enthusiastisch gefeierten Eröffnungsfilm DJANGO.
Regisseur Oren Moverman verschaukelt uns erst mal so richtig im ersten Teil des Films. Nicht, daß das nicht hervorragend gemacht wäre, wenn wir zwei Ehen zusehen, die zwei Brüder führen, von denen der eine ein bekannter Politiker namens Stan (Richard Gere) ist und der andere, Paul (Steve Coogan), ein verbitterter wütender Lehrer, dessen gnadenloses Verhalten nicht nur eine kleine psychische Störung ist. Doch das wissen wir erst am Schluß, wo Paul uns längst gezeigt hat, daß er die Kindheit, die er als demütigend erlebte, in der die alleinerziehende Mutter den älteren Bruder Stan bevorzugte, im Mannesleben weiterlebt und nicht mitbekam, daß eigentlich alles ganz anders war.
Zwischen WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF und DER GOTT DES GEMETZELS wird hier der Bruderkrieg und die jeweiligen Ehekriege – Pauls Frau Claire - wie immer eindrucksvoll Laura Linney – sowie Stans Frau Katelyn (Rebecca Hall) vorgeführt. Das alles findet in einem Edelrestaurant statt, eine regelrechte Parodie, wo wir nun das DINNER erleben, wobei Speisefolge und dessen edle Benennung auch immer den jeweiligen Filmsequenzen entsprechen – bis zum Digestif am Schluß.
Und wenn hier von Verschaukeln gesprochen wird, so ist man lange lange amüsiert, wie sich hier gelebtes Leben und Bruderrivalität und schwierige Eheszenarien gegenseitig an die Gurgel gehen, was nicht nur mit Worten passiert, aber hauptsächlich. Und dann erst entwickelt sich nach und nach eine ganz andere Geschichte, die nun wirklich ans Eingeweide von Familien geht. Die verwöhnte Brut, allesamt Jungen und wohlstandsverwahrlost, bzw. überbehütet, was dasselbe ist, überfallen eine Obdachlose und zünden sie an und lachen noch über ihre Tat und deren Tod. Doch der dritte im Bunde ist schon vorher abgesprungen, hat die beiden aber mit dem Handy gefilmt und das ins Netz gestellt.
Wie würden Sie sich verhalten. Ihr Kind vor der Gerechtigkeit und auch vor Strafe schützen, das Ganze also vertuschen oder aufdecken und eine Gefängnisstrafe in Kauf nehmen, die, da es sich um Minderjährige handelt, überschaubar sein würde. Und da entpuppen sich nun die Eltern als andere Menschen, als wir sie einschätzten. Die clevere Katelyn, die ihrem erfolgreichen Politikergatten nichts schenkt, will aber verhindern, daß das Söhnchen Verantwortung übernehmen muß. Auch Claire ist die Obervertuscherin und selbst Paul, den wir ja doch als Extremgrantler, aber wie wir dachten, ehrenwerten Kerl erlebt hatten, ist feige und geradezu peinlich.
Nur einer steht für Offenlegung des Verbrechens und er benennt die Schandtat auch als eine solche, die im Lügennetz der Mütter zu einem Unfall bagatellisiert wird: ausgerechnet der Politiker Stan, der gerade vor seiner Wiederwahl steht, ist derjenige, der auf die Verantwortung der jungen Leute pocht, ihre Selbstanzeige will und damit auch seine Wiederwahl aufs Spiel setzt und eine Niederlage in Kauf nimmt. Der einzige aufrechte Kerl, von dem wir auch inzwischen wissen, daß wir durch die Kommentierungen seines Bruder Paul ein völlig falsches Bild von ihm gewonnen hatten, ist der Politiker Stan.
Ganz wichtig noch, daß im Mittelteil des Films der Bruderkrieg der USA im Geschichtsmuseum in Gettysburg eine große Rolle spielt, als die Nordstaaten die Südstaaten besiegten und allein hier über 50 000 Soldaten auf dem Feld blieben. Nein, das wird nicht mit dem Holzhammer eingebleut, wo die Überschneidungen mit amerikanischer Geschichte und dieser Viererbande auftreten. Bruderkrieg allüberall.
Aus der Pressekonferenz
Neben dem Regisseur sind anwesend:
Steve Coogan – Paul
Laura Linney – Ehefrau
Richard Gere – Politiker
Steve Coogan: Jeder Gang im Menü ist der Gang in der Geschichte, also Hauptteil 50 Minuten, die Erinnerung an den Bürgerkrieg hat eine ganz wichtige dramaturgische Funktion. Den größten Beifall erhält der Schauspieler dann für seinen Satz: „Ja, Paul ist schon krank, doch verglichen mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten ist das wohl eher ein leichter Kopfschmerz.“
Richard Gere sieht sich wie der Regisseur als jemand, der kreativ unterwegs ist, das heißt, daß man am Anfang des Drehens nicht so genau weiß, wo es langgeht. Laura und er spielen im dritten Film miteinander, das nötige Vertrauen ist eben da. Mit Steve Coogan war es die erste Zusammenarbeit, aber die Atmosphäre schaffte dann, daß auch mit Steve alles schnell und intensiv lief.
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Frage: Alle seine Filme sind von Wut getragen, woher kommt die? Dieser Film ist der schlimmste von allen und ...die meisten der Fragen stellte sich als unnötig heraus, weil sich die Verfilmung in allen grundsätzlichen Fragen an das Buch hält, von dem wir aber nichts wußten. Es handelt sich um DAS DINNER von Herman Konrad, einem Niederländer, das in Berlin spielt, wo es zum einen um die Hauptstadt der Nazis geht und den Bruderkrieg zwischen West und Ost, symbolisiert in der Mauer. Bei der Verlagerung in die USA hatte sich der Regisseur überlegt, daß die Funktion von Berlin Gettysburg übernehmen müsse, die ursprünglichen Sünde der Amerikaner, die bis heute fortwirke. Am blutigsten Ort der USA sind über 50 000 Soldaten im Bruderkrieg getötet worden.
Warum wollte Coogan Paul spielen? Wegen der vielen Worte, eher ein Hörspiel, darum war das eine Herausforderung. Ähnliches sagt Laura Linney über ihre Motivation, diese Claire zu spielen. Gere schätzte seine Rolle so ein, wie sie auch das Plenum empfand. Die drei Personen blieben ihr Leben lang gleich, aber er hat sich im Lauf seines Lebens verändert. Und zwar zum Guten, zum Aufrechten, zur Wahrheit. Die Herausforderung für Richard Gere war, daß der wahre Charakter von Stan erst sehr spät aufscheint. Woher das kommt, daß er so seltsam mit seinem Bruder kommuniziert? Stan läßt erst alles laufen und dann übernimmt er die Orientierung für die Familie.
Film das Klischee, falsche Vermutung des Publikums, das auf die falsche Spur gesetzt wird, verächtlich, wie er noch mit der ersten Frau umging, wie er jetzt ein anderer geworden ist, obwohl er ständig im politischen Geschäft steckt. Aber lauter ist. Dialektisch geht die Post ab zwischen vier Personen, eine Figur zeigt die Geschichte in den verschiedenen Dimensionen. Innere Größe mit Resonanzboden, eigene Entscheidung
Der Regisseur betont seine große Angst bei der Adaption, der Roman besitzt große Theaterbühnenmäßigkeit, sollte aber als Film kein Theater sein...
Am Schluß wies noch jemand darauf hin, daß das Verbrechen der Jugendlichen im Film auch gerade in Berlin passiert sei, wo Obdachlose angezündet wurden.
Foto: (c) berlinale.de
Info:
Oren Moverman
USA 2016
Englisch
120 Min · Farbe
Mit
Richard Gere (Stan Lohman)
Laura Linney (Claire Lohman)
Steve Coogan (Paul Lohman)
Rebecca Hall (Katelyn Lohman)
Chloë Sevigny (Barbara Lohman)
Stab
Regie, Buch
Oren Moverman
Kamera
Bobby Bukowski
Schnitt
Alex Hall
Musik
Elijah Brueggemann
Sound Design
Jacob Ribicoff
Ton
Tony Volante
Production Design
Kelly McGehee
Kostüm
Catherine George
Maske
Luann Chaps
Regieassistenz
Curtis Smith
Casting
Jodi Angstreich, Maribeth Fox, Laura Rosenthal
Production Manager
Jon Read
Produzenten
Julia Lebedev, Eddie Vaisman, Cotty Chubb, Lawrence Inglee
Ausführende Produzentinnen
Eva Maria Daniels, Angel Lopez, Olga Segura
Biografie
Oren Moverman
Geboren 1969 in Tel Aviv. Der Drehbuchautor (unter anderem für Married Life von Ira Sachs und I’m Not There von Todd Haynes) und Produzent legte 2009 mit The Messenger sein Regiedebüt vor. Der Film lief im Wettbewerb der Berlinale und wurde mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch und dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet. Des Weiteren wurde das Drehbuch für einen Oscar® nominiert. Als Co-Drehbuchautor war Moverman auch an Udi Alonis Junction 48 beteiligt, der 2016 den Panorama-Publikumspreis gewann.
Filmografie
2009 The Messenger 2011 Rampart 2015 Time out of Mind 2016 The Dinner