67. BERLINALE vom 9. bis 19. Februar 2017, WETTBEWERB, Teil 10

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) –  Regisseur Sebastián Lelio hat‘s mit den starken Frauen. Seine GLORIA wurde 2013 mit dem Silbernen Bären als Beste Schauspielerin ausgezeichnet  und seine neue starke Frau MARINA – logischerweise solle der Film eigentlich so heißen – ist eigentlich ein Mann. Oder falsch, ist nämlich eigentlich eine Frau, weil sie sich so fühlt, aber in der Haut und den Geschlechtsmerkmalen eines Mannes steckt. Eine Transgender-Frau.



Das wissen wir aber erst einmal überhaupt nicht, wenn wir dem älteren Orlando beim Sich Schön – und Fitmachen zusehen. Denn sein Saunaaufenthalt und die Massage dienen dem abendlichen Zusammensein mit seiner Geliebten. Marina singt in einer Bar und beide gehen dann Essen, wobei er ihr liebevoll eine Geburtstagstorte mit Gesang überreicht und als Geschenk einen Gutschein für eine Reise zu zweit zu den Wasserfällen von Iguazú. Mit den Bildern dieses dramatischen Wasserfalls beginnt der Film und wir hoffen den ganzen Film hindurch, daß wir filmisch noch dorthin kommen dürfen. Es gibt wenig, was so beeindruckend ist wie die ganze Gegend dort, im Dreiländereck: Argentinien, Paraguay und Brasilien.

Doch erstens ist der Briefumschlag mit den Tickets fort – darum der Gutschein –,  und zweitens läßt der Regisseur die Reise auf seinem Weg durch die Geschichte links oder rechts liegen. So geht das nicht!


Daß allerdings Orlando keine Rolle mehr spielen kann, liegt daran, daß das Drehbuch den Liebenden nach einem Beifall in einen tiefen Schlaf fallen und jäh mit Herzschmerz erwachen läßt. Zwar schafft er es nach einem Treppensturz noch bis in die Klinik, aber dort verstirbt er. Das ruft nun seine Familie auf den Plan. Denn der gute Orlando hatte eine Ehefrau,  Kinder, eines davon noch sehr klein. Der bereits erwachsene Sohn wird sich gegenüber Marina als großmäulig und gemein erweisen. Daß aber Orlandos Familie die Geliebte des nicht mit offenen Armen aufnimmt, sondern aus Orlandos Wohnung vertreiben will, ist das nicht überraschende Schicksal einer jeden Geliebten eines Ehemannes, der in ihren Armen verstirbt. Kein spezifisches Schicksal einer Transgendergeliebten.

Wir sind nun dabei, wenn Marina Orlando betrauert und versucht, sich im Leben neu einzurichten. Sogar Orlandos Hund ist auf einmal wieder da, den die Familie entführte und der im übrigen von der guten Marina ganz und gar nicht gut behandelt worden ist. Gut, sie hat mit ihm geschmust, dem geliebten  Hund, aber sie tut sonst nichts für ihn. Nie geht sie mit ihm Gassi, er bekommt nichts zu fressen...das ist ziemlich lieblos heruntergedreht, Herr Regisseur.

Daß der Filmemacher hingegen Marina nicht auch noch mit den Überhöhungen einer Pietà ausstattet, rechnen wir ihm hoch an. Bei allem Transgedergerede, das auch die Pressekonferenz begleitete, zeigt der Film einen Menschen, dem der Geliebte durch den Tod entrissen wurde. Da geht es nicht um Mann oder Frau, sondern um Verlust. Auch in anderen Fragen läßt der Drehbuchautor Marina mehr als ungeschickt agieren. Sie muß sich nicht wundern, nachdem sie schon die Sexpolizistin nicht - wie erbeten - angerufen hatte, wenn die Kriminalpolizei sie zum Verhör bestellt, wenn sie auch deren Aufforderung zur Rückmeldung einfach nicht nachkommt. Ursache des polizeilichen Eingreifens waren nämlich die Verletzungen, die sich Orlando beim Treppensturz zugezogen hatte. Da Marina den Sturz den Ärzten und der Polizei verschwieg, macht sie verdächtig, ihm das zugefügt zu haben. Aus Polizeisicht ein normaler Vorgang und keine spezifische Handlungsweise gegen eine Transgenderfrau.

Stattdessen ist sogar positiv zu sehen, welchen Rückhalt Marina in ihrer eignen Familie hat. Tut uns leid, so sehr konnten wir Marina gar nicht bedauern, denn daß es schwierig ist, sein Geschlecht selbst zu bestimmen, liegt in der Natur der Sache. Bedauern tun wir ihren Verlust. Denn sie liebte und wurde geliebt. Daß es um eine Liebesbeziehung ging, vermittelt der Film anschaulich und warmherzig. Aber daß der Geliebte eine Familie hatte, ist eine andere Wirklichkeit. Und keine Ehefrau hat die Geliebte des Mannes gerne bei der Beerdigung im Kreise der Familie dabei. Daß Marina ihre Trauer alleine bewältigen muß und nicht mit Orlandos Familie, ist auch einsichtig. Sie hat aber ein anderes Quantum Trost. Der Film ist auf ihrer Seite und wer hat das schon, daß eine ganze Produktion dem individuellen Schicksal dient.

Eine Sache verstörte mich eher. Sicher hat die Einfügung ihrer an Barockopern angelegten Gesangspartien ins Drehbuch mit der Stimme der Darstellerin Daniela  zu tun. Sie ist ein Countertenor/Alt. Das waren zur Barockzeit bevorzugt Kastraten. Heute sind es ganz unterschiedlich Männer und Frauen, die diese hellen Stimmen zu singen vermögen. Aber mich störte hier der historische Kontext. Auch wenn es schön anzuhören war.


Aus der Pressekonferenz

Faible für phantastische Frauen. Was hat ihn gereizt? Faszination für starke Frauen, eher eine Inspiration. „Irgendwas im Weiblichen finde ich interessant genug, um einen Film daraus zu machen...Es gibt Frauen, die etwas an sich oder in sich haben, wo mich das auszuloten und im Film einzufangen besonders fasziniert. Der Rest ist ein Mysterium. Man folgt dem, was einen fasziniert.“, spricht dazu   Sebastián Lelio.

Die Würde, die Marina besitzt, ist stark. Die Figur wurde geschaffen, um dies auszudrücken. Wie sieht die allgemeine Situation für Transgender in Chile aus. Man spürt die Blicke, die aufdringlichen, man wird aufmerksam auf die unterschiedlichen Sexualitäten. Was empfinden die Leute wirklich? Der Film ist simpel, auf den ersten Blick. Eine Liebesgeschichte. Was geschieht im Zuschauer…

Möglicherweise geht das weit über Chile hinaus. Auch wenn die Lage heikel ist, und in manchen Ländern es eine Rückwärtsbewegung gibt… der Film ist intuitiv gedreht und ..wir müssen definieren, wohin wir wollen. Der Film soll den Zuschauer beteiligen. Der Film paßt gut zum Zeitgeist. Empathie. Wo hat sie ihre Grenzen? Was darf man leben, was nicht.

Die Musik im Film? Schon in Gloria war die Musik so gut gelungen. Hier Barockmusik und Kastraten.  

Was ist mit dem Umschlag passiert, in dem die Reise nach Iguazú steckte?  „Die Faszination des Lichts, einen Raum der Leere . Der Film funktioniert, in dem er die Information schafft, die Hauptfigur die letzte Tür öffnen läßt...ich habe keine Ahnung...es ist wieder mehr eine große Frage, wie gehen wir mit der Leere um, mit dem Nichts...ein Traum, eine Vision…?“, versucht sich der Regisseur.

„Die Figur der Marina, die Poesie sieht, wo man eigentlich nichts sieht, wie in Iguazú – stimmt doch gar nicht ! Dort sieht man sehr viel– dann zu dieser persönlichen Frage. Alles verändert sich, man wird geboren und stirbt, aber dazwischen ist alles offen. Ich kann leben, wie ich will, wir gehören alle zusammen und das ist gut so. Der Zuschauer soll seine eigenen Fragen stellen und sich beantworten.“, meint dazu die Schauspielerin der Marina.

Es geht um eine soziale Utopie, wir haben eine Riesenchance, wenn der Schlüssel die Tür öffnet. Hier macht dies der Film.

Foto:

Info:

104 Min · Farbe
Mit
Daniela Vega (Marina)
Francisco Reyes (Orlando)
Luis Gnecco (Gabo)
Aline Kuppenheim (Sonia)
Nicolas Saavedra (Bruno)
Amparo Noguera (Adriana)
Nestor Cantillana (Gaston)
Alejandro Goic (Arzt)
Antonia Zegers (Alessandra)
Sergio Hernandez (Gesangslehrer)

Stab

Regie
    Sebastián Lelio
Buch
    Sebastián Lelio, Gonzalo Maza
Kamera
    Benjamín Echazarreta
Schnitt
    Soledad Salfate
Musik
    Matthew Herbert
Sound Design
    Tina Laschke
Ton
    Alberto Alén
Production Design
    Estefanía Larraín
Kostüm
    Muriel Parra
Maske
    Valeria Goffreri
Regieassistenz
    Maria José Droguett
Casting
    Moira Miller, Alejandra Alaff
Production Manager
    Eduardo Castro
Produzenten
    Juan de Dios Larraín, Pablo Larraín
Ausführende Produzenten
    Rocío Jadue, Mariane Hartard, Ben von Dobeneck
Co-Produzenten
    Jeff Skoll, Jonathan King, Sebastián Lelio, Gonzalo Maza, Janine Jackowski, Jonas Dornbach, Maren Ade, Fernanda del Nido
Co-Produktion
    Participant Media, Los Angeles
    Komplizen Film, Berlin
    Muchas Gracias, Santiago
    Setembro Cine, Barcelona


Biografie
Sebastián Lelio

Geboren 1974 in Mendoza, Argentinien, aufgewachsen in Chile, wo er an der Escuela de Cine Film studierte. Sein Spielfilmdebüt La Sagrada Familia wurde bei den Filmfestival in San Sebastián präsentiert. Navidad feierte 2009 bei den Filmfestspielen in Cannes in der Sektion Director’s Fortnight seine Premiere. Sein dritter Film El año del Tigre wurde 2011 in Locarno gezeigt. 2012 war Lelio Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Mit Gloria war er 2013 im Wettbewerb der Berlinale vertreten, Hauptdarstellerin Paulina García wurde mit dem Silbernen Bären für die beste Darstellerin ausgezeichnet.

Filmografie (Auswahl)

2005 La Sagrada Familia 2009 Navidad 2011 El año del Tigre 2012 Gloria 2017 Una mujer fantástica
Produktion