BERLINALE-TAGEBUCH2017, Tag 1 (Donnerstag)

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Ein mächtig stinkender Obdachloser steigt in die S-Bahn und schlurft zeitlupenhaft zum anderen Ausgang. Beim nächsten Halt übergibt er sich in den Zug, steigt aus und hinterlässt uns frischen Gestank.


Eine kinoreife Szene bei meiner ersten Fahrt zum Pressezentrum am Potsdamer Platz, der einzige Ort, an dem Berlin wie eine Großstadt aussieht. Doch ich bin sicher, dieser „Kotzbrocken“ wird kein Sinnbild für die kommenden zehn Tage der Berlinale werden.


Auf den Plakaten der Festspiele scheinen sich zwar echte Bären in der Stadt herumzutreiben - die Welt ist aus den Fugen geraten: Unter den 399 Filmen des Festivals sind zahlreiche Streifen, welche die bittere oder mancherorts Übelkeit erregende Realität abbilden. Aber es gibt auch genügend humorvolle oder Mut machende und Zuversicht verbreitende Filme, betont Festivalleiter Dieter Kosslick. Aus Wolf Biermanns „Ermutigung“ zitiert er in der ersten Pressekonferenz gleichsam das Motto der Berlinale: „Du, lass Dich nicht verhärten, in dieser bitteren Zeit...“
Seit Sonntagnacht schlafen die „Filmverrückten“ vor den Kassenhäuschen in den geheizten Arkaden, um morgens ihre Wunschtickets zu bekommen. In der Früh lichten TV-Teams die Aufwachenden ab und befragen sie nach ihren Kartenwünschen. Viele von ihnen antworten bereits wie Medienprofis, denn die meisten machen das schon seit Jahren.


Auch tagsüber bilden sich lange Warteschlangen auf den roten Teppichen, während der „echte“ rote Teppich, draußen für die Promis, noch verlegt wird. „Film ab!“ wirbt eine lokale Zeitung und bietet Probeabos mit Gutscheinen für Festivalfilme. 320.000 zahlende Besucher hatten die Festspiele im letzten Jahr.


Berlinale heißt, sich ständig entscheiden zu müssen. Bereits am Donnerstag zum Start muss ich wählen: Gehe ich zur Pressekonferenz der Wettbewerbsjury oder schaue ich „Casting“, den ersten Film im Forum? Gehe ich zur Premiere der SM-Schmonzette „Fifty Shades of Grey“ (II) und erfahre endlich, wozu das viele Baumaterial in der Erotik nötig ist? Oder schaue ich, wie Kosslick unweit des Berlinale-Palasts Straßenstände mit gesundem Essen und fair gehandeltem Kaffee eröffnet?


Mal sehn!