Berlinale Tagebuch 2017, Teil 8
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - In der Früh, auf dem Weg zum Berlinale-Palast, sitze ich müde in der S-Bahn, vertieft in meine Filmpläne. Irgendetwas rempelt mich an, ich sehe hoch - und schaue in die Sonne: Ein lichtblondes, vielleicht zweijähriges Mädchen strahlt mich mit blauen Augen an; mir geht das Herz auf.
Später beim Aussteigen liegt ein blutender Obdachloser regungslos auf der Steintreppe, Helfer bemühen sich um ihn, steif klammert sich daneben ein Nichtsesshafter an Krücken. Ist der, möglicherweise tote Mann Opfer eines Überfalls oder betrunken die Stufen heruntergefallen?
Meine Berliner Wirklichkeit ist filmreif und widersprüchlich - so gegensätzlich, wie die Scheinwelt in den Festspielkinos: Ich sehe diesen wunderbar-poetischen Film aus Ungarn, über den ich hier schon berichtete: Die ätherische blonde Hauptdarstellerin wird darin oft zur Sonne. Oder ich gucke blutige Horrorkomödien wie den genialen spanischen Streifen „El Bar“. Er zeigt, wie acht Menschen einander in einer abgeschlossenen Kneipe ausgeliefert sind und sich gegenseitig psychisch, später auch physisch zerfleischen.
Dieser Streifen, wie ebenso neulich der blutige chinesisch-japanische Gangsterfilm „Mister Long“, machen deutlich, der Wettbewerb im Festival ist nicht mit Beziehungs- und Problemfilmen übersättigt. Sogar die schrille Fortsetzung des legendären cineastischen Werks „Trainspotting“ von 1996 (!) läuft - allerdings außer Konkurrenz - ebenfalls im Wettbewerb.
Ich habe hier gelegentlich ironisch über die Presseleute gelästert. Doch heute muss ich mal schreiben, dass das gemeinsame Anschauen von Filmen mit so vielen Kinofreunden sehr anregend ist. Viele kontroverse Diskussionen mit den Anderen vertiefen die Wahrnehmung und eröffnen oft weitere Gesichtspunkte oder neue Perspektiven der Streifen.
Durch den Vergleich der Wettbewerbsbeiträge, verändert sich sowieso im Nachhinein häufig die spontane Bewertung der verschiedenen Filme für mich...