Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Februar 2017, Teil 14

Filmheft

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eigentlich ist man motiviert, mehr über diesen chilenischen Nationaldichter zu schreiben, der auch uns Europäern die sanften Worte ins Ohr träufelte. Neruda war ‚in‘, vielleicht bei uns mehr als im Chile der Fünfziger Jahre? Die Redaktion



WIE HABEN SIE SICH DEM THEMA, DER FIGUR PABLO NERUDA GENÄHERT?

Wir sehen und empfinden Pablo Neruda als einen Künstler, einen Schaffenden, der  so  komplex  und  weitreichend  ist,  praktisch  unendlich,  dass  es  unmöglich ist, ihn in eine einzige Kategorie zu packen und einen Film mit dem Anspruch zu machen, diese Persönlichkeit oder seine Arbeit kompakt und im Schnelldurchgang darzulegen und zu definieren. Aus diesem Grund haben wir die Geschichte  der  Flucht,  der  Fahndung  und  der  literarischen  Legende  gewählt.  Für  uns  ist  
„Neruda“ ein „Anti-Biopic“, ein Biopic, das keines ist. Wir haben uns entschieden,  einen  Film  mit  spielerischen  und  erfundenen  Elementen  zu  machen,  in  einer Weise, dass das Publikum Neruda ein Stück seines Weges begleiten und so  in  seine  Dichtung,  seine  Erinnerung  und  seine  kommunistische  Ideologie  hineintauchen kann.


WARUM WOLLTEN SIE KEIN KONVENTIONELLES BIOPIC MACHEN?

Biopics  sind  eine  gefährliche  Sache,  denke  ich.  Ich  habe  vier  Biografien  über Neruda gelesen, unzählige Essays, seine Autobiografie, ich habe mit Leuten gesprochen, die ihn gekannt haben, ich habe einen Film gemacht, der „Neruda“ heißt. Und ich kann Ihnen nicht sagen, wie Neruda wirklich war. Er ist nicht zu fassen, es ist nicht möglich, ihn in eine Schublade zu stecken. Der Kosmos, den er geschaffen hat, ist unermesslich. Neruda hat über ganz verschiedene Dinge auf  vielfältige  Arten  und  Weisen  geschrieben,  sein  Werk  ist  ungeheur  komplex  und tief und vielschichtig. Wenn man das einmal verstanden hat, gibt einem das eine große Freiheit.


WIE  SEHEN  SIE  DAS  SPANNUNGSVERHÄLTNIS  VON  NERUDAS  KÜNSTLERISCHEM  SCHAFFEN  UND  DEN  POLITISCHEN  EREIGNISSEN  IM  CHILE  DER SPÄTEN 40ER JAHRE?

In  der  Zeit,  in  der  er  abgetaucht  war,  hat  Neruda  einen  großen  Teil  des  „Canto General“ geschrieben, das vielleicht sein bedeutendstes, komplettestes und riskantestes Buch ist, inspiriert von allem, was er sah und erlebte während seiner Flucht. Sein Schreiben ist voller Wut und Einbildunskraft, voller furchtbarer Träume. Es ist eine allumfassende, kosmische Beschreibung Lateinamerikas in der Krise, voller Zorn, Verzweiflung und Zärtlichkeit.

Neruda schuf ein politisches Werk über Krieg, Wut und Dichtung, während er selbst auf der Flucht war. Das hat uns die Tür zu freier Imagination geöffnet. Ähnlich wie uns das bei Neruda und  seinem  Werk  begegnet  ist,  will  der  Film  aus  einer  filmischen  und  literarischen  Perspektive  eine  Sphäre  schaffen,  in  der  Kunst  und  Politik  sich  durchdringen.  Wir  haben  uns  zum  Beispiel  bewusst  dafür  entschieden,  uns  weniger auf  seine  Liebesgedichte  zu  konzentrieren,  die  bis  heute  überall  auf  der  Welt berühmt  sind,  sondern  auf  die  Gedichte,  die  Wut  und  Zorn  in  sich  tragen,  die Politik und Ideologie mit Poesie verbinden.


SIE  ZEIGEN  NERUDA  AUCH  IM  WIDERSPRUCH  ZWISCHEN  POLITISCHER ÜBERZEUGUNG UND DEM EIGENEN LEBEN ALS BONVIVANT

Neruda war ein großer Liebhaber guter Küche, des Weins, der Frauen, der Literatur – das im Film wegzulassen, wäre mir grausam vorgekommen. Und falsch. Der  Widerspruch  zwischen politischen  Positionen  und  eigenem  Leben  musste  vorkommen.  Was  Pablo  Neruda  gerade  im  Canto  General  geschafft  hat,  war,  Chile  aus  der  Poesie  heraus  zu  beschreiben.  Hätte  er  auf  eine  andere  Weise gelebt, hätte er diese Gedichte vielleicht nicht schreiben können. Die Dichtung
von Neruda ist auch ein Ergebnis seines Lebens.


DIE ÄHNLICHKEIT VON LUIS GNECCO MIT PABLO NERUDA IST VERBLÜFFEND. HAT DAS MASKENBILD VIEL DAZUBEIGETRAGEN?

Da  Luis  Gnecco  eine  Glatze  hat,  haben  wir  eine  Perücke  gebraucht,  das  war alles.  Die  große  Herausforderung  für  Luis  bestand  darin,  auf  das  Gewicht  von  Neruda  zu  kommen:  Das  war  eine  kleine  Tragödie  für  ihn,  denn  seit  ich  ihn kenne, hat er immer mit seinem Gewicht gekämpft. Als ich ihn gefragt habe, ob er Neruda spielen wolle, hatte er es gerade geschafft, abzunehmen – und nun musste er für die Rolle wieder 25 Kilo zulegen. Ich bin sehr glücklich, dass er das gemacht hat, er ist fantastisch. Und nach dem Dreh hat er es geschafft, die
Neruda-Kilos wieder loszuwerden.



WAS HAT SIE AN DEM MOTIV VON NERUDAS FLUCHT GEREIZT?

Pablo Neruda mochte Krimis – darum ist der Film als Road Movie mit dem Motiv der  polizeilichen  Ermittlung  angelegt:  Genres,  die  überraschende  Wendungen  einbeziehen, sich entwickelnde Charaktere und wie bei uns auch Elemente der Farce und des Absurden. Wir sehen die Landschaften und die Bewegungen in ihr als einen Prozess der Transformation, des Begreifens, der Illumination. Keiner endet hier so, wie er begonnen hat, weder der Jäger noch der Gejagte. Wir wollten  eine  Welt  erfinden,  so  wie  Neruda  sich  die  seine  erfunden  hat.  Unser Film ist wahrscheinlich weniger ein Film über Neruda als einer in seinem Geist – vielleicht ist er auch beides zusammen. Wir wollten einen Roman erzählen, von dem wir gerne hätten, dass Neruda ihn mit Vergnügen liest.



Foto: © Verleih

Info:
"Neruda"
Chile/Argentinien et al. 2016
Regie: Pablo Larraín
Drehbuch: Guillermo Calderón
Darsteller: Luis Gnecco, Gael García Bernal, Mercedes Morán, Alfredo Castro
Produktion: Fabula, Participant Media et al.
Verleih: Piffl
Länge: 107 Minuten
Start: 23. Februar 2017

Wir sahen den Film in der ersten Vorstellung in der HARMONIE, Frankfurt, wo er täglich um 16 und 20 Uhr spielt.