Rückblick auf die Retrospektive der 67. Berlinale 2017
Claus Wecker
Berlin (Weltexpresso) - Diesmal also der Science-Fiction-Film. Ganz so neu war das Thema ja nicht, stand doch »Der künstliche Mensch« im Jahr 2000, als die Berlinale vom Zoo-Palast und die Retrospektive vom Astor Kino am Kudamm zum Potsdamer Platz umgezogen war, auf dem Programm.
Neben den alten Mythen um Golem und Alraune ging es seinerzeit vor allem um die menschlichen Identität und zukünftige Technologien, durch die jene infrage gestellt wird. Beispiele hierfür waren die drei ROBOCOP- und die ersten zwei TERMINATOR-Filme, Andrew Niccols GATTACA und Michael Crichtons WESTWORLD, um nur einige der bekanntesten für furchterregende Zukunftsschilderungen zu nennen.
Womit wir bei den Horrorvisionen von zukünftigen Welten angelangt wären: Übervölkerung, Umweltzerstörung, das Ende der Zivilisation nach einem atomaren Weltkrieg – der Möglichkeiten gab und gibt es noch immer viele. Ein Großteil der Filme, die heuer zu sehen waren, widmete sich diesen Dystopien, wie sie etwas hochtrabend genannt werden. Mit frappierenden Ergebnissen, denn der Science-Fiction-Film zählt nach den Worten des Direktors der Deutschen Kinemathek und Leiter der Retrospektive, Rainer Rother, zu den "bildgewaltigsten und spektakulärsten Genres der Filmgeschichte". Allerdings beeindrucken die Klassiker der Gattung nicht immer mit einem umwerfenden Produktionsdesign. Zuweilen liegt der Akzent auf dem düsteren Inhalt. So wirkte das Drama 1984, Michael Andersons Verfilmung des Romans von George Orwell, mit den englischen Backsteinhäusern aus der Gründerzeit und den kuriosen Bildschirmen schon im Erscheinungsjahr 1956 recht altbacken. In dem Film geht es eben vor allem um den Überwachungsstaat, und dieses Thema ist heute so aktuell wie damals oder wie 1948, als Orwell den Roman verfasste.
Ohnehin ist die Projektion in die Zukunft stark gegenwartsabhängig. Zu Zeiten des Kalten Krieges etwa war ein atomarer Weltkrieg und das, was er von der Welt noch übrig gelassen hätte, keine abwegige Phantasie, sondern ein kollektiver Albtraum. Und Amerikaner und Osteuropäer haben ihn sehr unterschiedlich geträumt. In Stanley Kramers ON THE BEACH (USA 1959) überlebt die Besatzung eines US-amerikanischen U-Boots vor der Küste Australiens den atomaren Fallout, der sich noch nicht bis auf diesen Teil der südlichen Halbkugel ausgebreitet hat. Gregorý Peck gibt den Commander eines US-amerikanischen U-Boots und Ava Gardner seine australische Geliebte. Ein äußerst fotogenes Liebespaar, eines der ansehnlichsten der Filmgeschichte. Den Schrecken des Zivilisationsendes deutet der Film durch Bilder von menschenleeren Straßen eher dezent an.
Ganz anders dagegen die osteuropäischen Filme, die ihre Radikalität bis heute behalten haben. Hier mutet man dem Publikum etwas zu und verzichtet auf Beschwichtigungen. O-BI, O-BA, THE END OF ZIVILISATION (Polen 1985) von Piotr Szulkin und LETTERS FROM A DEAD MAN (UdSSR 1986) von dem Ukrainer Konstantin, einem ehemaligen Produktionsassistenten bei dem Tarkowski-Film STALKER, schildern eine apokalyptische, postnukleare Gesellschaft mit zerlumpten Jammergestalten. Da schwindet jede Hoffnung, selbst für einen Appell der Vernunft (wie in Kramers Film) bleibt kein Platz.
Ein weiteres Thema war in Berlin die Begegnung mit Außerirdischen. Ganz sympathische Wesen, gegen die man natürlich auch militärische Mittel in der Hinterhand bereit hält, sind sie in Steven Spielbergs CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND (USA 1977 – übrigens damals auch auf der Berlinale gelaufen) mit dem unvergessenen Nouvelle-Vague-Regisseur François Truffaut in einer Nebenrolle. Die Exterrestrischen betätigen sich auf der Erde als Poltergeist und verursachen Verhaltensauffälligkeiten in einer amerikanischen Familie, bis es am beeindruckenden Ende zu einer Art Austausch kommt. Freigelassen wird eine Gruppe von Menschen, die zuvor auf mysteriöse Weise verschwunden sind, während sich Familienvater Roy Neary (Richard Dreyfuss) in das Raumschiff begibt wie ein Sinnsuchender zu einer Psycho-Sekte.
Doch Spielberg war mit seiner recht entspannten Sicht der Dinge ein Pionier, wenn es um Besuche aus dem All geht. CLOSSE ENCOUNTERS kann natürlich auch als Vorläufer zu dem eingängigeren, fünf Jahre später gedrehten E.T. gelten, und gerade ist in den Kinos ARRIVAL von Denis Villeneuve ebenfalls mit versöhnlichen Außerirdischen zu sehen.
Aber überwiegend ist das Fremde auch das Bedrohliche. Hier treffen sich Horror- und Science-Fiction-Film. Besonders eindrucksvoll geschieht das in INVASION OF THE BODY SNATCHERS (USA 1956), wo Außerirdische die Bevölkerung eines kalifornischen Städtchens durch Doppelgänger ersetzen. Zu Recht ein Kultfilm, gelingt es doch dem leider viel zu selten gerühmten Regie-Virtuosen Don Siegel, durch kleine Verschiebungen das Alltägliche zu verfremden und das anscheinend Normale als latent gefährlich vorzuführen. Dass der Film auf eine kommunistische Unterwanderung anspielt, war seinerzeit die vorherrschende Interpretation.
Bei jeder Auswahl vermisst man zwangsläufig einige Beispiele. Diesmal war es DEMOLITION MAN (USA 1993) von Marco Brambilla, weil in diesem Film eine völlig ruhig gestellte Zukunftsgesellschaft gezeigt wird, die durch einen aus dem Gefrierschlaf aufgetauten Gangster (Wesley Snipes) aufgemischt und von seinem ebenfalls aufgetauten Erzfeind (Sylvester Stallone) wieder befriedet wird. Kein anspruchsvolles Werk, aber mit einer absolut gewaltfreien Bevölkerung, die Waffen nur aus dem Museum kennt, ein äußerst origineller Zukunftsentwurf. Der Film taucht übrigens auch nicht in der informativen, reich bebilderten, ausschließlich englischen Publikation zur Retrospektive und zu der sehenswerten, immer noch laufenden Ausstellung "Things to Come" des Berliner Museums für Film und Fernsehen auf.
Fritz Langs FRAU IM MOND (D 1929) und Georges Méliès’ witzige Mondexpedition fehlten auch, wobei letztere bekannt sein dürften. Dafür gab es die selten gezeigten Stummfilme DAS HIMMELSSCHIFF (DK 1918) mit friedlichen Marsmenschen und ALGOL. TRAGÖDIE DER MACHT (D 1920), ein Sozialdrama mit dem heute besonders aktuellen Übergang von der Kohle zu einer neuen Energie zu sehen.
Ein Film entwickelt sich zum absoluten Berlinale-Retro-Klassiker: BLADE RUNNER (USA 1982). Er wurde anlässlich der Fertigstellung des Director's Cut im Februar 1993, danach als neuer Director's Cut im Jahr 2000 und jetzt wieder in Berlin gezeigt Sollte Harrison Ford einmal eine Hommage gewidmet werden, dürfte er wieder gezeigt werden.
Foto:
Info:
Dokumentation:
Rainer Rother / Annika Schaefer (Hg.)
Future Imperfect. Science • Fiction • Film
Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen
Bertz + Fischer, Berlin 2017
In englischer Sprache
132 Seiten, 95 Fotos, Hardcover, 21,5 x 22,5 cm, 19,90 Euro
Ausstellung:
Things to Come
Bis zum 23. April 2017 im Filmhaus am Potsdamer Platz