Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 16. März 2017, Teil 8

Filmheft Irene Langemann

Berlin (Weltexpresso) - Schon in meinem Film „Rubljovka“ (2007) habe ich mich mit der Freiheit des einzelnen Menschen gegenu?ber der Macht des Staates in Russland auseinandergesetzt. Dieses Thema begleitet mich seit meiner Kindheit und fru?hen Jugend in Sibirien und meinem spa?teren Leben in Moskau.

Das Individuum zählte nichts in der Sowjetzeit. Während der Perestroika und den chaotischen 1990ern Jahren gab es ein kurzes Aufatmen und die Hoffnung auf Freiheit. Doch in Putins Russland werden die Menschen wieder immer mehr zu Marionetten. Das ist auch die Lebensanschauung und die Kernaussage des Politkünstlers Pjotr Pawlenski.


Seine Form der künstlerischen Aktionen entwickelte Pawlenski während des Strafprozesses gegen die Gruppe „Pussy Riot“, die das Vorbild für ihn war. Doch er geht viel weiter als die jungen Frauen. In seiner Radikalität und Metaphorik findet man keinen Künstler in der russischen Politkunst, vielleicht sogar nicht in der internationalen Szene.


Die ersten Dreharbeiten führte ich mit Pjotr Pawlenski und seiner Lebensgefährtin Oksana Schalygina im September 2015 in St. Petersburg durch. In den wenigen Tagen entwickelte sich zwischen uns ein offenes und kollegiales Arbeitsverhältnis. Das Filmkonzept war so angelegt, dass wir den Politkünstler über einen längeren Zeitraum und bei seinen nächsten Kunstaktionen mit der Kamera begleiten wollten. Doch es kam alles anders.


Am 9. November 2015 führte Pjotr Pawlenski seine bislang letzte (fast selbstmörderische) Aktion „Bedrohung“ aus, bei der er die Tür des russischen Geheimdienstes FSB (früher KGB) in Moskau anzündete. Er wurde sofort verhaftet und wegen Vandalismus angeklagt. Seine Anwälte gingen von drei Jahren Gefängnis aus.


Für mich entstand eine Situation, in der ich das Filmkonzept ändern musste. Vor allem stellte sich die Frage, wie kann man einen Hauptprotagonisten präsent machen, der in Untersuchungshaft in dem berüchtigten Butyrka-Gefängnis einsitzt und den man bei den Gerichtsverhandlungen nur drei Minuten lang filmen und befragen darf? Mit welchen künstlerischen und ästhetischen Mitteln kann man das Unsichtbare sichtbar machen? Dies wurde zur größten ästhetischen Herausforderung.


Als sehr produktiv erwies sich die Zusammenarbeit mit den Moskauer Künstlern Oleg Kulik und Lena Hades, die durch ihre Arbeit an einer Pawlenski-Skulptur und an Porträt- Zeichnungen dem inhaftierten Kollegen zu einer anderen Art der Anwesenheit vor der Kamera verhalfen. Da sich beide auch intensiv mit der aktuellen politischen Situation in Russland beschäftigen, konnten sie ihre Unterstützung für Pawlenski analytisch und assoziativ zum Ausdruck bringen.
Über die russische Organisation für politische Häftlinge „Rosusnik“ gelang es mir einen Briefwechsel mit Pawlenski aufzubauen und so Einblicke in seinen Gefängnisalltag zu bekommen. Es stellte sich aber die Frage, wie kann man die Briefe visualisieren?


Weitere Textdokumente waren Protokolle der Verhöre zwischen ihm und dem Untersuchungsrichter Pawel Jasman im Petersburger Prozess zur Aktion „Freiheit“, die Pawlenski heimlich aufgezeichnet hatte. Und wir durften bei den Gerichtssitzungen zwar mit der Kamera nicht dabei sein, aber den Ton aufzeichnen. Nach der ursprünglichen Idee alle Textdokumente mit Hilfe von Puppen zu visualisieren, die sich als langwierig und kostspielig erwies, die Ereignisse sich aber überstürzten, entschied ich mich, die Textebene in der Stilistik von Schattentheater mit russischen Schauspielern umzusetzen. Da eine starke physische Ähnlichkeit der Darsteller mit den realen Personen Voraussetzung war, haben wir ein aufwändiges Casting in Moskau durchgeführt.


Sieben Monate verbrachte Pawlenski in Untersuchungshaft. Die Machthabenden versuchten ihn vor den Medien zu verstecken, indem sie die Gerichtsverhandlungen in Nacht-und Nebelaktionen vorverlegten oder absagten. Doch sie konnten dieses Spiel nicht ewig fortführen. Anfang Juni 2016 kam Pjotr Pawlenski überraschenderweise im Gerichtssaal frei.


Die Filmaufnahmen fanden in einem Zeitraum von etwa einem Jahr statt. Das Schwierigste waren vor allem die Dreharbeiten bei den Gerichtssitzungen, mit vielen Verboten und dem brutalen Vorgehen der Wachleute. Viermal wurden das Team und ich von der Polizei festgenommen. Einmal auf dem Roten Platz, mit der Folge, dass das aufgenommene Material von der Chipkarte gelöscht wurde.


Und trotzdem finde ich die Anstrengungen gerechtfertigt. Pawlenskis Mut, seine künstlerische Ausdrucksstärke, seine Lebensphilosophie faszinieren mich.


Die Regisseurin: Irene Langemann


Geboren in Issilkul, Gebiet Omsk/UdSSR. Studium der Schauspielkunst und Germanistik an der Tcepkin-Theaterakademie in Moskau. Seit 1980 Schauspielerin, Regisseurin und Theaterautorin in Moskau, ab 1983 Moderatorin beim Russischen Fernsehen. 1990 Ausreise in die Bundes- republik Deutschland. Von 1990 bis 1996 Redakteurin bei Deutsche Welle TV Köln, seitdem freie Filmemacherin mit zahlreichen internationalen Preisen.