Lida Bach
„Besser als die Ehrerbietung der Menschen ist es zu sitzen mit Buch und Stift.“ Die Worte des gälischen Gedichtes gleichen denen, die Brendan im Kopf schwirren. Auszusprechen wagt der wissbegierige Schriftlehrling (Evan McGuire), der im 9. Jahrhundert in einem irischen Mönchskonvent Kells aufwächst, sie kaum. Denn das Oberhaupt der Klosters und der angrenzenden Dorfgemeinde ist Brendans Onkel Cellach (Brendan Gleeson), der so streng ist wie seine Mine und Anweisungen. Ihnen zum Trotz wagt sich Brendan in die umliegenden Wälder, wo sich große Weisheit verborgen liegt - und ebenso große Gefahr.
Nach Cellachs Willen soll Brendan einmal sein Nachfolger werden, doch den interessieren mehr für die Illustrationskunst von Bruder Aidan (Mick Lally). Der Gelehrte sucht in Kells einen Gehilfen für eine besondere Aufgabe und Zuflucht vor einer finsteren Bedrohung, der sich auch Brandan stellen muss. „Die Dunklen“ nennt Brendans Onkel den todbringenden Schrecken, der mit den Wikingern einst in die Gemeinde einfiel. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Steinwall, den er zum Schutz errichten will. Dabei verkennt er, dass die Abwehrmaßnahme nicht nur feindliche Fremde ausgrenzt, sondern wohlgesonnene. Dazu gehört das Geisterwesen Aisling (Christen Mooney), mit dem Brendan während eines Ausflugs in den Wald Freundschaft schließt, und indirekt Aidan, der mit seiner klugen Katze Pangur Bán von außerhalb kommt. Pangur Ban ist nicht nur der heimliche Held von Tomm Moores und Nora Twomeys mystischem Kindermärchen, sondern des Gedichts, dem die eingangs zitierten Verse entstammen.
Wenn sie im Abspann von „Das Geheimnis von Kells“ erscheinen, ist das lyrische Filmabenteuer für junge und alte Kinozuschauer schon bestanden. Das Dunkel der Unwissenheit ist besiegt, das Licht des Wissen scheint heller und ein Kleinod des Animationskinos glänzt auf der Leinwand. In eine solche verwandelt sich der Fernsehbildschirm für alle, die den oscarnominierten Trickfilm nicht auf der Berlinale 2009 oder bei einem seiner späteren Festivalauftritte erhaschten. Trotz der Auszeichnungen, die der faszinierenden Übersetzung keltischer Kunst und Legenden in an detaillierte Holzschnitte erinnernde Trickszenen einheimste, ist die ungewohnte Bilderallegorie so wenig bekannt wie die ihm zugrunde liegende Schrift. Jenes Buch von Kells ist ein illustriertes Manuskript, das frühchristliche Passagen des Neuen Testaments mit Elementen der keltischen Mythologie vermischt. Dieses unbedarfte Nebeneinander von Volksglaube und organisierter Religion ist die Stärke der schlichten Handlung.
Die in Familienfilmen oft allzu präsente Morallehre ersetzt ein universelles Gleichnis von Licht und Schatten. Die von bunter Lebendigkeit zu unheimlicher Finsternis wechselnde Farbpalette wird zum dramaturgischen Hauptelement. Helligkeit und Farbintensität verkörpern Neugier und Lernfreude, die mehr noch als Tapferkeit und Stärke der Schlüssel zur Gelehrtheit sind. Fahlheit und Dunkelheit signalisieren Rohheit und Engstirnigkeit, die dem Wissen gefährlich werden. Grausamkeit und Obskurantismus haben in den filmischen Bilderschnitzereien verschiedenerlei Gestalt, sei es die der finsteren keltischen Gottheit Crom Cruach oder der plündernden Wikinger, die mit gehörnten Helmen und glühenden Kohleaugen an Höllenwesen erinnern. Die Figuren sind psychologisch so streng konturiert und traditionell gezeichnet wie die zweidimensionalen Bilder, doch was den Film visuell bereichert, macht ihn inhaltlich ärmer.
Obwohl die gruseligen Momente sehr junge Zuschauer ängstigen können, entwickelt die Filmsaga kaum erzählerische Spannung. Ihr Zauber ist der verwitterte Reiz der altertümlichen Mythen und Epen, die es inspiriere, doch wie Brendan einmal sagt: „Nicht alles lässt sich aus Büchern lernen.“
Oneline: Visuell bezauberndes und inhaltlich naives Kinderbuch der Wunder.