GOEAST: Festival des mittel-und osteuropäischen Films vom 26. April bis 2. Mai in Wiesbaden, Teil 9

Thomas Adamczak

Weltexpresso (Wiesbaden) - »Im Exil« ist eine lettisch-litauische Koproduktion des Regisseurs D?vis S?manis, der an der Kunstakademie in Riga lehrt. »Im Exil« ist ein im Sinne des Wortes merk-würdige Film.

Ein deutscher Militärarzt, gespielt von Ulrich Matthes, kommt im Auftrag des deutschen Kaisers, wie dieser sagt, in ein einsam gelegenes Sanatorium für Kriegsversehrte. Die Insassen des Lagers sind in vielfältiger Weise »versehrt«: verletzt, verwundet, allem Anschein nach körperlich und geistig behindert. Sprachliche Verständigung mit diesen »Versehrten« ist kaum möglich. Die Kranken sprechen nicht, man hört sie allerdings. Sie schreien, brüllen, winseln, stöhnen, ächzen, wimmern, schluchzen.

Es ist Ende des Ersten Weltkriegs: Apathische Gesichter vorbeilaufender Soldaten, Leichenberge, Bombendetonationen, Granateinschläge, brennende Bäume, verwüstete Waldflächen. Auswirkungen des Krieges. Krieg ist Wahnsinn. Diesen Wahnsinn zeigt der Film mit seinen Bildern, durch die Geräuschkulisse, die Auswahl der Musik. Zerstörungen, wohin man schaut. Traumatisierung von Mensch und Natur. Eine einzige Hölle, die der Krieg hinterlässt, das ist die Botschaft des Filmes.

Ein Patient des Doktors wird in einem nahe gelegenen Dorf ausgepeitscht. Der Arzt interveniert, kann mit Mühe verhindern, dass dieser Mensch zu Tode geprügelt wird. Gründe für dieses Geschehen bleiben im Dunkeln. Zwischenrein Aufnahmen der Urgewalt des Meeres, das wie eh und je mit turmhohen Wellen den Küstenstreifen malträtiert.

Nebelschwaden tauchen eine unbegrenzte Wiese in dämmriges Licht. Einzelne Bäume stehen im größeren Abstand wie auch Menschen, vermutlich Patienten der Klinik, die wie lebende Statuen wirken.

Der Film arbeitet mit surrealen, mystisch anmutenden Elementen. Wichtig noch die Beziehung zwischen dem Arzt und dem völlig verwilderten Wolfsjungen Kaspars, der an einsamer Stelle im Wald angekettet ist, unarkuliert brüllend vor Schmerz und Hilflosigkeit. Der Arzt befreit den Jungen, nimmt ihn mit in das Sanatorium, bemüht sich, kümmert sich um ihn. Er versucht, dem Kind etwas beizubringen, lässt es zum Beispiel Zahlen aufmalen.

Einmal ist Kaspars aus seinem Gefängnis - er wird in sein Zimmer eingesperrt - verschwunden. Der Arzt ist aufgebracht, sucht ihn verzweifelt in der Umgebung des Sanatoriums. Als der Junge wieder auftaucht, herrscht der Arzt ihn an: »Das darfst du nicht machen!« Er schlägt das Kind, entschuldigt sich, weil er sieht, dass der Wolfsjunge seine gewalttätige Reaktion überhaupt nicht versteht, verstehen kann.

Der Film ist eine Allegorie auf die entmenschlichende Wirkung des Krieges. Der Wahnsinn des Krieges wird in einem Sanatorium demonstriert, das eine Aufbewahranstalt für »Wahnsinnige« ist. Solchen Menschen ist nicht zu helfen. Hier erfährt der Arzt die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten.

Im Abspann des Films erfahren die Zuschauer*innen, dass die Zahl der Patienten in psychiatrischen Kliniken in Lettland nach Ende des Krieges halbiert war. Sie wurden umgebracht, verhungerten.

Über seinen Film äußerte sich der Regisseur folgendermaßen: „It is important to me that the story takes us back a hundred years ago and reminds us about the hazardous nature of cold rationality.”

Tagesschaubilder aus Syrien fallen einem ein. Die von Dāvis Sīmanis in Szene gesetzte Urkatastrophe des neunzehnten Jahrhunderts wiederholt sich gerade. Immer wieder. Wir schauen zu!

Unter der Überschrift »Begrenztheit« (in: »Des Menschen Element«) notiert die amerikanische Lyrikerin Ellen Hinsey:

»Mensch sein heißt, sich mit der Tatsache abzufinden, dass das Sein die Erfahrung mitfühlender Verbundenheit hemmt.«




Foto:  Ulrich Mathes (c) goeast.de


Info:
Jahrgang 2017

PELNU SANATORIJA, IM EXIL
Dāvis Sīmanis
Lettland, Litauen 2016 / 100 Min

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