Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 4. Mai 2017, Teil 9
Filmheft
Berlin (Weltexpresso) - Auch das Interview mit Regisseur & Ko-Autor Lars Montag ist abgedruckt und wir haben seine Antworten auf Fragen, die in der Lust liegen, besonders gerne gelesen.
Herr Montag, was hat Sie nach Ihren vielen Fernseherfolgen nun doch dazu gebracht, ihren ersten abendfüllenden Kinofilm zu inszenieren?
Die Frage Fernsehen oder Kino hat sich für mich nie gestellt, ich habe immer versucht, gute Projekte zu verwirklichen, egal für welches Medium. Aber nach EINSAMKEIT UND SEX UND MITLEID muss ich sagen: Jetzt bin ich vom Kino angefixt.
Aber was war der eigentliche Auslöser?
Ich hatte Helmut Kraussers gleichnamigen Roman gelesen und fand ihn super. Doch dann hieß es: Jemand anderes ist am Stoff dran. Ein halbes Jahr später, also 2011, hat mich dann der Produzent Werner C. Barg – wir kennen uns noch von der Kunsthochschule in Köln – angerufen und gefragt: „Ich habe da einen Stoff, willst du den mal lesen?“
Ausgerechnet diesen Stoff?
Ja. So sind wir dann zusammengekommen.
Dann haben Sie mit Krausser am Buch gearbeitet?
Zuerst einmal waren wir froh, dass er am Drehbuch mitschreibt, Helmut Krausser ist nicht nur ein guter Roman-, sondern auch begnadeter Dialogautor, viele seiner Bücher sind ja sehr dialogisch. Er hat die erste Fassung geschrieben, in seiner literarischen Einsamkeit. Diese Version habe ich dann bearbeitet und zurückgeschickt – so ging das über E-Mail hin und her; schließlich haben wir uns getroffen.
Wie war die Zusammenarbeit? EINSAMKEIT UND SEX UND MITLEID ist ja Kraussers Baby, und da muss er für ein Drehbuch loslassen können, sich von Handlungssträngen trennen.
Immer wenn wir uns getroffen haben, war es sehr angenehm, das kreative Tauziehen lief dann eher schriftlich ab: Ich habe etwas ins Buch hineingeschrieben, und als die Fassung von ihm zurückkam, war die Passage wieder weg. Also dachte ich: „Aha, das gefällt ihm wohl nicht so.“ Das ging aber auch umgekehrt so. Die Art der Zusammenarbeit war sehr fruchtbar.
Wie schwierig war die Finanzierung?
Sehr. Es gab mehrere Absagen mit der Begründung: politisch nicht korrekt genug. Was das Projekt aus meiner Sicht ja adelt.
Hatte die Schwierigkeiten auch damit zu tun, dass keine Stars mitspielen?
Dies ist ein Ensemblefilm, und da ist es wenig sinnvoll, wenn einzelne Darsteller zu sehr herausstechen. Wir haben einen großartigen, stimmigen Cast mit wunderbaren Schauspielern gefunden, die alle einen ähnlichen Hintergrund haben. Neben ihrer Begabung haben sie Theatererfahrung, kennen Ensemblearbeit und sind teamfähig.
Ob nun Jan Henrik Stahlberg mit MUXMÄUSCHENSTILL, Peter Schneider mit DIE SUMME DER EINZELNEN TEILE oder Maria Hofstätter mit PARADIES: GLAUBE – fast alle Ensemblemitglieder haben schon in „eckigen“ Filmen brilliert.
Sie sind alle mit einer gehörigen Portion Mut an die Sache gegangen. Die Figur von Maria muss zum Beispiel jenseits jeglicher Sympathie funktionieren, auch Rainer Bock lehnt sich sehr weit aus dem Fenster. Oder Hussein Eliraqui, der den jungen Araber Mahmud spielt – viele Andere haben beim Casting gesagt: „Wenn ich vor der Kamera ein deutsches Mädchen küssen soll – das geht nicht!“
Und all diese Figuren sind nun dramaturgisch wie in einem Spinnennetz gefangen.
Richtig, und jeder verhakt sich mit jeder Bewegung noch mehr.
Da haben Sie sich für ihren ersten Kinofilm ja einen echten Klopper vorgenommen: viele Figuren, eine sehr komplexe Erzählstruktur, diverse filmische Mittel des Erzählens – ist Ihnen manchmal nicht ein wenig schummrig geworden?
Ja, schon. Es gab Phasen, besonders im Schnitt, in denen ich dachte: „Was wird das eigentlich?“ Dann habe ich 20 Leute zusammengetrommelt, ihnen eine Sequenz gezeigt und gefragt: „Was macht das jetzt mit euch?“ Und so kam immer wieder frischer Wind rein. Außerdem habe ich ja mit einem altbewährten, eingespielten Team gearbeitet, sei es nun der Szenenbildner Andreas C. Schmid oder der Cutter Marc Schubert. Wir waren uns alle einig, dass wir das bisher Erreichte in unserer Zusammenarbeit für diesen Film ausdehnen wollten.
Hatten Sie keine Angst, den Zuschauer zu überfordern?
Nein. Ich finde Überforderung grundsätzlich besser als Unterforderung. Überforderung macht neugierig, Unterforderung verärgert. Mich zumindest.
Ist das ein Unterschied zum Fernsehen?
Ich freue mich sehr, dass im Kino Menschen zwei Stunden ihrer Lebenszeit investieren. Sie begeben sich zu einer verabredeten Zeit in einen dunklen Saal und schauen alle gemeinsam in die Richtung, wo es am hellsten ist. Und da läuft dann EINSAMKEIT UND SEX UND MITLEID. Solch eine Art von Druckbetankung, wie dieser facettenreiche Stoff sie bietet, geht nur innerhalb der kontrollierten Verhältnisse eines Kinosaals. Besonders auch akustisch. Der Score von Konstantin Gropper und das Sounddesign nutzen die technischen Möglichkeiten voll aus, und öffnen sehr den Raum zum Zuschauer hin.
Stellten die vielen freizügigen Szenen ein Problem dar?
Überhaupt nicht. Im Roman und im Drehbuch stand alles schon drin, von daher war die Umsetzung sehr entspannt. Man musste einige Schauspieler im Gegenteil sogar ein wenig zügeln: „Halt, der Film soll noch durch die FSK!“ Mit der Sexualität ist es ja so – mit 14, 15 Jahren dachten wir alle: „Mann, ist das kompliziert mit den Beziehungen und dem Sex, aber die Erwachsenen, die haben das alles hinter sich, muss das später schön und einfach sein!“ Unser Film zeigt nun die Realität: Es bleibt kompliziert, egal wie alt man wird.
Der Sex im Film ist alles andere als harmonisch oder schön.
Es kommt immer darauf an, wie Sex eingebettet ist. Innerhalb echter Liebe ist Sex der Himmel selbst. Aber bei uns ist Sex, auch im Titel, im Sandwich zwischen Einsamkeit und Mitleid eingeklemmt. In diesem Kontext ist Sex nur ein verzweifelter Versuch von Selbstbespiegelung, verbunden mit Triebabfuhr.
Bei etlichen der Figuren gibt es den Wunsch, den Körper zu verändern oder ihn unsichtbar zu machen. Warum?
Es geht in unserer Gesellschaft viel um Optimierung, sowohl des Körpers als auch des Lebens. Das sieht man ja auch an all den im Film zu sehenden Gadgets wie dem Staubsaugerroboter, dem Selfie-Arm, dem Fitnessarmband, der Silent Party oder dem Anger Room.
War es eine bewusste Entscheidung, den Ort der Handlung nicht genau zu titulieren?
Genau. Die Stadt ist nicht zu erkennen, es sind auch keine KFZ-Kennzeichen zu sehen. Das war eine bewusste Entscheidung von Werner C. Barg, Helmut Krausser und mir. Wir wollten nicht, dass das eine ausgemachte Berlin-Geschichte wird. Denn dann hätte der Rest der Republik gesagt: „Siehste - Berlin, da sind ja eh nur die Bekloppten, das hat mit mir ja nichts zu tun.“ Es ist kein Berlinfilm, sondern ein Stadtfilm. Mit Wohnhöhlen, in denen es sich die Protagonisten so individuell wie möglich eingerichtet haben, auch das trägt ja absurde Blüten. Und alle Orte draußen sind austauschbare Hüllen: der Bahnhof, das Fitnessstudio, das Einkaufszentrum.
Wo haben Sie gedreht?
In Leipzig und Halle. Für die vielen Räume im Film – wir haben über 80 Motive – war klar: Wir finden das Wenigste, das Meiste müssen wir extra bauen. Und da hat uns zum Glück der Propst aus Leipzig, Gregor Giele, sehr geholfen und uns sein altes leerstehendes Gemeindezentrum samt Kirche und Wohnungen zur Verfügung gestellt. Die meisten Handlungsorte wurden dort errichtet.
Nochmal zum Titel: Einsamkeit ist klar, Sex auch: Aber Mitleid hat man mit den Figuren doch eher wenig, oder?
Wirklich? Ich leide mit einigen der Figuren. Aber sie selbst haben kaum emphatische Züge. Wie auch, wenn jeder sich nur um sich selbst kümmert. Im Buchtitel soll das Mitleid natürlich von der Konnotation an „Einigkeit und Recht und Freiheit“ erinnern.
Die Figuren sind ja nicht auf Mitleid aus, am ehesten noch der gefeuerte Lehrer.
Ja, er hat sich in seiner Opferrolle eingerichtet. Ihm ist aber auch wirkliches Unrecht widerfahren. Leider hat er entschieden, sich weg zu ducken und klein zu machen. Auch in der Szene mit der Familienaufstellung nutzt er die Therapie nicht dazu, wirklich eine Lösung zu finden, sondern nur um weiterhin sein Problem zu zelebrieren.
Andererseits könnte zwischen dem Lehrer und Robert, dem Familienvater, eine richtig innige Freundschaft entstehen.
Zwei Misfits, zwei Außenseiter, erkennen sich ineinander, und jeder macht beim anderen die Tür zu einer neuen Welt auf. Beide könnten sich befreien, säße der Stachel beim Lehrer nicht so tief.
Warum haben Sie sich für das Cinemascope-Format entschieden?
Durch das Kammerspielhafte geht es ja viel um Menschen in ihrer Umgebung. Durch Cinemascope konnten wir nun nah an den Figuren sein und dennoch viel vom Raum drum herum, vom Kontext erzählen. Eines habe ich im Entstehungsprozess gelernt: Nachdem die Kamera ihr Bild gefunden hat, muss man noch mit den Requisiten so nachrutschen, dass das Format optimal genutzt wird. Denn nur viel Platz neben dem Gesicht des Schauspielers – das reicht nicht. Auch am Rand und im Hintergrund muss die Geschichte und Emotion weitererzählt werden.
Und dann sind da noch die Bienen- und Vogelschwärme, die uns Menschen vormachen, wie harmonisches Zusammenleben geht.
Das ist doch die große Frage: Wie soll das Zusammensein und Zusammenleben vieler Individuen funktionieren, die alle zugleich besonders sein wollen. So sind wir Menschen eben. Deutlich wird das auch durch die im Film immer wieder auftauchenden Splitter, die sich nur noch um sich selbst drehen – und durch die chorische Filmmusik. Einzelne, unterschiedliche Stimmen formen zusammen etwas Größeres. So haben wir diesen Aspekt im Film durchdekliniert. „Du bist einzigartig! – Genauso wie jeder andere auch.“
Bestes Beispiel der Schluss-Song: Kollektive Individualität. Es ist doch Wahnsinn, wie schwierig wir es uns selbst machen, glücklich zu sein.
Und? Was bleibt letztlich? Wie sieht ein funktionierendes Zusammenleben aus?
Wenn es eine allgemeingültige Lösung gäbe, würde der Film sie nennen. Aber wir arbeiten hier ja nicht mit dem Aufzeigen von Lösungen oder Wahrheiten, sondern mit dem Ausschließen von Unwahrheiten. Es gibt dieses schöne Zitat von Arthur Conan Doyle: „Wenn man alles ausschließt, was unwahr ist, muss das, was übrigbleibt, die Wahrheit sein. So unwahrscheinlich sie auch sein mag!“
Die Beweggründe sämtlicher Figuren im Film sind niemandem fremd. Es ist wie bei einem Verstärker: Wir haben die Lautstärke, die Amplitudenausschläge zwar etwas hochgedreht, aber den Grundton der Welle, den kennen wir alle.
Wie würden Sie das Genre von EINSAMKEIT UND SEX UND MITLEID beschreiben?
Keine Ahnung. Der ganze Film ist mit seinen emotionalen Wechselbädern ja eher wie eine Kneippkur: Lacher - Schlag ins Gesicht - Lacher - Schlag ins Gesicht. Diese Unglaublichkeit, die dabei entsteht, und die Wahrhaftigkeit, die ich dabei empfinde, die waren das Ziel.
Das Leben hat kein Genre. Zumindest meins nicht.
Foto: Ecki Nöten (Bernhard Schütz) (c) Verleih