GOEAST: Festival des mittel-und osteuropäischen Films vom 26. April bis 2. Mai in Wiesbaden, Teil 11
Kirsten Liese
Weltexpresso (Wiesbaden) - In seiner 17. Ausgabe fokussierte das Festival für den mittel- und osteuropäischen Film in Wiesbaden auf Produktionen von Frauen. Márta Mészáros, die Pionierin im ungarischen Kino, kam als Ehrengast.
Eben noch war Lena eine unbekümmerte, lebensfrohe junge Frau, die gerade dabei war, sich zu verlieben. Nun plagen sie schwere Depressionen. Der Mathelehrer hat sie vergewaltigt, niemand weiß davon. In der Jugendpsychiatrie, in die ihre Eltern sie nach einem Selbstmordversuch eingewiesen haben, findet die Siebzehnjährige keine Hilfe. Vielmehr zweifeln die Therapeuten den sexuellen Missbrauch der Mädchen an, die so mutig sind, über ihre traumatischen Erfahrungen zu reden. So wird alles noch schlimmer.
Schmutzig (vgl. wpo-Rezension vom 2. Mai als Teil 8) war einer von zehn Spielfilmen, die das 17. Wiesbadener GoEast Filmfestival nebst sechs Dokumentarfilmen im Wettbewerb zeigte. Ein bewegender, engagierter Film, der Missstände ins Visier nimmt, die so im Westen kaum denkbar wären. Wiewohl in Tschechien jede zehnte Frau sexuelle Gewalt erfahren hat, bringt kaum jemand das zur Anzeige, sagt Regisseurin Tereza Nvotová, „das Thema ist immer noch tabu“.
Insgesamt war das osteuropäische Autorenkino in Wiesbaden einmal mehr mit sehr anspruchsvollen Produktionen vertreten, nur wurde es diesmal deutlich weiblicher. Die anhaltende Kritik an der Filmauswahl großer Festivals wie Cannes, die in einigen Jahren ausschließlich männliche Regiearbeiten zeigten, hat das Bewusstsein für das weibliche Filmschaffen gestärkt und wohl auch dazu beigetragen, dass im Osten junge Regisseurinnen verstärkt auf den Markt drängen. Für Gaby Babić, die Leitern des GoEast, bot dieser Trend die willkommene Gelegenheit, in der jüngsten Ausgabe den Frauen in besonderer Weise eine Bühne zu bieten. Mithin initiierte sie neben dem Wettbewerb auch ein Symposium unter dem Titel Feministisch wider willen, das sich mit zahlreichen filmhistorischen Werken von Regisseurinnen beschäftigte.
Prekäre Lebensumstände von Frauen, facettenreich vermittelt. Und dies ohne larmoyante Töne. Klaglos, bisweilen geradezu stoisch erdulden die Heldinnen ihre Schicksale. Ihr dicker Panzer, den sie sich zugelegt haben, bewahrt sie davor, am Schmerz zu zerbrechen. In Hana Jušićs subtilem Wettbewerbsbeitrag Glotz nicht auf meinen Teller kümmert sich beispielsweise eine junge Kroatin rührend um den nach einem Schlaganfall pflegebedürftig gewordenen patriarchalischen Vater, und den behinderten Bruder. Marijana ist schon lange erwachsen, wohnt aber immer noch zu Hause und ernährt die Familie, wiewohl ihre herrische Mutter sie permanent tyrannisiert. Noch nicht einmal einen Freund darf sie mitbringen, aber die Männer, auf die Marijana trifft, suchen ohnehin weder Liebe noch eine Beziehung, sondern brutalen Sex. Wie Schmutzig ist auch dies ein in ästhetischer Hinsicht sehr ansprechendes Drama mit sparsamen Dialogen, wenig Musik und bedrückenden, herunter gekommenen Landschaften, in denen sich das desolate Seelenleben der Menschen spiegelt.
Auch die erste Filmemacherin aus Ungarn meisterte ihr Leben mit großer Tapferkeit. Márta Mészáros, die 85-jährige Pionierin des ungarischen Kinos, verlor in ihrer Kindheit beide Eltern. Der Vater wurde in der Sowjetunion im Zuge kommunistischer „Säuberungen“ verhaftet und ermordet, die Mutter starb kurz darauf. Die Grande Dame kam anlässlich der Hommage an sie nach Wiesbaden. Acht Filme wurden von ihr gezeigt, darunter der Erstling Das Mädchen und die autobiografisch gefärbte, berührende Trilogie Tagebuch für meine Kinder- Tagebuch für meine Lieben- Tagebuch für meinen Vater und meine Mutter.
So oft Mészáros in ihren Arbeiten von Waisen erzählt und sich mit Adoption beschäftigt, ließe sich vermuten, dass sie ihr eigenes Kindheitstrauma im Kino aufgearbeitet hätte wie vergleichsweise der Schwede Ingmar Bergman. Dies sei aber nicht der Fall gewesen, sagt sie, wie sie überhaupt jemals weder eine Therapie noch einen Psychologen gebraucht habe. Dass sie überhaupt ohne Vater und Mutter über- und weiterleben konnte, verdanke sie wohl dem Umstand, dass es nach Kriegsende ein Stück „Normalität“ war, keine Eltern zu haben. Damals waren nahezu alle Kinder Waisen, „wahrscheinlich hat uns dieses Bewusstsein gestählt.“
Mit der serbischen Schauspielerin und Regisseurin Mirjana Karanović kam noch eine international viel beachtete Künstlerin nach Wiesbaden. In der großartigen, mit der Goldenen Lilie für den Besten Film ausgezeichneten Tragikomödie Requiem für Frau J. ist sie eine Witwe, die, arm, einsam, von der Gesellschaft und der Familie aufs Abstellgleis gestellt, den Lebensmut verloren hat und sich umbringen will. Doch gestaltet es sich schwierig, an die Schlaftabletten respektive an einen Arzt heranzukommen, der ihr dazu verhelfen könnte. Ihre Gesundheitskarte ist abgelaufen, und auf diversen Ämtern will sie niemand verlängern. Regisseur Bulan Vuletić schickt seine Heldin auf eine bizarre Odyssee durch Instanzen und legt dabei nicht nur viel Mitgefühl, sondern auch einen rabenschwarzen Humor an den Tag.
So düster es in vielen Beiträgen auch zugeht- Emanzipation im Osten erscheint keineswegs aussichtslos.
Optimismus verströmte allen voran Manana, die Protagonistin in der georgisch-französisch-deutschen Koproduktion Meine glückliche Familie (Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die Beste Regie). Lange genug hat die Lehrerin mit ihren herrischen alten Eltern, ihrem Mann und den Kindern auf engstem Raum zusammen gelebt. Mit Anfang 50 zieht sie aus und mietet sich eine eigene Wohnung, um endlich einmal an sich zu denken.
Es traten erfreulich zahlreich starke weibliche Identifikationsfiguren auf dem Go East Filmfestival in Erscheinung.
Foto: Márta Mészáros (c) jegy.hu