Eine beeindruckende Montafoner Theaterwanderung, Teil 2/2

Thomas Adamczak

ta montavollSchruns/Montafon (Weltexpresso) -Der Schweizer Zöllner betont, dass sein Land seit Jahren »gegen die Zunahme der Überfremdung« kämpfe und nicht gewillt sei, sich von der Gestapo Emigranten aufzwingen zu lassen. Im Übrigen könnten Flüchtlinge »nur aus Rassegründen« nicht anerkannt werden. (!)

Damit ist die Dramatik am Ende der Inszenierung vorbereitet, als zwei jüdische Flüchtlinge (einer von ihnen Theaterkritiker, der andere Rechtsanwalt) am 10. Spielort (»Feldherrenhügel«) an einem Grenzstein auf einen Schweizer Zöllner stoßen, der ihnen den Grenzübertritt verwehren will, weil er »strengsten Befehl« zu befolgen habe.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer müssen in diesem Moment eine unerträgliche anmutende Anspannung aushalten. Wenn der Zöllner die Flüchtlinge zurückschickt, droht ihnen der sichere Tod, wenn er sie trotz gegenlautenden Befehls über die Grenze lässt, sind sie gerettet.

ta monta1Ein vergleichbarer emotionaler Druck lastet auf den Zuschauerinnen und Zuschauern auch am zweiten Spielort (Rongg Alpe) in der 5. Szene, die in einem »Mistgeviert« spielt, einer etwa 2 m tiefen Jauche-bzw. Mistgrube.

Auf dem Betonboden der Grube kriecht und windet sich die Schauspielerin Maria King, die sinnbildlich die Erniedrigung der Juden im »Deutschen Reich« darstellt. Dazu werden von Katharina Grabher sparsam eingestreute Sätze von Franz Werfel gesprochen. Die Schauspielerin in der Grube ist barfuß, ihr Kleid zerrissen und verschmutzt. Die Herabwürdigung lässt sie sich schmutzig fühlen. Dicht an die Wand gepresst, sucht sie verzweifelt Halt, den sie nicht finden kann. Die Grausamkeit der Herabwürdigung eines Menschen wird für die Zuschauer greif- und nachvollziehbar.

Die Grenzen der Empathiefähigkeit werden getestet. Das ist auf den Gesichtern der Zuschauerinnen und Zuschauer ablesbar, die das »Mistgeviert« umstehen und zu der Schauspielerin hinunterschauen. Fassungslosigkeit, Entsetzen in den Gesichtszügen. Einige treten zurück, weil sie es nicht mehr aushalten.

Will denn die Szene nie enden, denke ich, denken bestimmt die meisten. Dann richtet sich Maria King ein wenig auf, eine Hand greift tastend nach oben, Hilfe suchend.

In der Regieanweisung steht: »dann klettert sie - mithilfe des Publikums??? aus dem Mistgeviert und rennt davon«. Drei Fragezeichen!

Das ist eine Schlüsselstelle der Inszenierung. Aus dem Theaterspiel wird quasi ernst, für den Bruchteil einer Sekunde. Wird ihr jemand von den Zuschauerinnen und Zuschauern die Hand entgegenstrecken? Wird ihr aus der erniedrigenden Situation herausgeholfen?

Was wohl den Besuchern in dem Moment alles durch den Kopf geschossen sein mag? Ja, kann ich denn helfen? Falls ich helfe, passt das vielleicht nicht zum Ablauf des Stückes?

Eine Zuschauerin aus der Steiermark, ehemals eine Lehrerin, wie ich im anschließenden Gespräch erfahre, hält es nicht aus, reicht der Schauspielerin ihre Hand, hilft ihr, das Mistgeviert zu verlassen. Kurze Umarmung der beiden Frauen, Gesten des Trostes, des Mitempfindens. Eine wahrhaft kathartischer Moment mit entsprechender Wirkung.

Erleichterung auf den Gesichtern. Ist es so leicht? Bloß überwinden muss man sich? Der Mensch kann dem Menschen helfen, einem Menschen, der in Not, Bedrängnis, vielleicht sogar in Lebensgefahr ist.

Eine Lehre des Stückes? Die persönliche Schlussfolgerung einer Zuschauerin, eines Zuschauers?

Auf eine weitere Besonderheit der Theaterwanderung muss noch hingewiesen werden. Nach der dritten Szene wird jedem Zuschauer eine in Zeitungspapier eingewickelte Sardinendose gegeben.

Die Sardinendose sollte in der ursprünglichen Konzeption die Eintrittskarte darstellen und eigentlich gleich zu Beginn ausgeteilt werden. Sie ist eine Anspielung auf den österreichischen Schriftsteller Jura Soyfer, dessen in das Papier der damals noch nicht wirklich verbotenen austrofaschistischen Gewerkschaftszeitung verpackte Sardinendose den Gendarmen Vorwand war, ihn und seinen Freund Hugo Ebner zu verhaften.

Bei dieser Inszenierung bekommen die Zuschauerinnen und Zuschauer mit der Sardinendose die Kopie der Titelseite vom »Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon« vom 19. März 1938.

Ich zitiere abschließend drei Textstellen dieser Zeitungsseite, die keiner Erläuterung bedürfen:

»Es war ein Verbrechen und eine freche Lüge, der ganzen Welt gegenüber zu behaupten, dass hier andere Menschen leben würden als im Reich. Nein - sie sind alle Deutsche. Es war das tief im Blut liegende gemeinsame Gefühl, dass alle die alten Frauen und die Kinder, die Männer der Fabrik und die Arbeiter ... gemeinsam auf die Straßen führte, um den Führer zu grüßen, um ihm einen Triumphzug zu bereiten, wie ihn die Welt wohl noch nie gesehen hat. Es scheint uns fast, als ob nicht der Führer nach Österreich, sondern Österreich zu ihm gekommen sei! «

»Der Landeshauptmann grüßt den Führer!

Der Gauleiter und Landeshauptmann Toni Plankensteiner hat an den Führer und Reichskanzler nachstehende Drahtung ta montaallegerichtet: »Unter dem Eindruck des geschichtlichen Ereignisses der Erfüllung einer tausendjährigen Hoffnung des deutschen Volkes geloben die Deutschen vor dem Arlberg ihrem heißgeliebten Führer in tiefster Dankbarkeit treue Gefolgschaft«.

»Die deutsche Sprache hat der Worte nicht genug, um das, was wir weiter erlebten, zu schildern. Wir sahen nicht nur, wie tausenden österreichischen Männern und Frauen vor Rührung das Wasser in den Augen stand, auch wir, die wir das Glück hatten, nicht nur diese Fahrt des Führers, sondern auch manche andere mitzuerleben, haben in tiefer Ergriffenheit diese Tage erlebt.«

Fotos:
Titel: Schauspieler des teatro caprile und Zuschauer © Friedrich Juen
Mistgeviert ©mk Salzburg / Stella Klink
Gestapo-Mann und Zuschauer im Wald © Friedrich Juen

Info:
Mit freundlicher Unterstützung von  https://www.montafon.at/de

Und:
https://www.loewen-hotel.com/

https://www.teatro-caprile.at/

https://www.youtube.com/watch?v=aYCUJYZWEo8

http://www.erinnern.at/bundeslaender/vorarlberg/termine/teatro-caprile-auf-der-flucht.-interaktives-theater-mit-gefuehrter-tageswanderung