Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Beim letzten Berliner Tanz-Festival im Sommer präsentierte Sasha Waltz nach langer Pause neues Tanztheater: Die Uraufführung ihres Frauenstücks „Women“ sowie die Choreografie „Kreatur“ (vom Juni 2017).
Eine puschelige „Kreatur“ - siehe Titelfoto - erscheint auf der fast dunklen Bühne, langsam kommen weitere in Draht versponnene Wesen dazu. In den Kostümskulpturen verbergen sich nackte Tänzerinnen, flüsternd und wispernd nehmen sie Kontakt auf. Plötzlich bewegen sich zwischen ihnen normale Tanzende mit verlangsamten, kaum noch menschlichen Bewegungen. Später rottet sich das Ensemble bei Techno-Beat zusammen, manche brechen aus den kollektiven Tänzen aus. Sie individualisieren sich mit heftigen Bewegungen, doch schnell kehren sie zurück. In weiteren Szenen frieren sie immerzu in kurzen lebenden Bildern ein - verkörpern Liebe, Zorn, Verzweiflung.
Die Gefühle sind nicht gespielt, eine Rothaarige wird bis zur völligen Erschöpfung gejagt. Die Compagnie mimt keine Dramen, sondern mit fremdartigen Bewegungen und getanzten Erzählfragmenten schafft es eine eigene Wirklichkeit. Zum Ausklang taucht eine düstere stachelige Gestalt auf, bedroht die Tanzenden, scheint aber auch in sich selbst gefangen. Doch das Stück endet skurril - zu gehauchten Liebesschwüren von „Je t’aime“ küssen sich Tänzer oder begrapschen nackte Brüste der Tänzerinnen, die wiederum peitschen Tänzer mit ihren Haaren aus.
In „Women“ geht es natürlich um Frauen, wie der englische Titel nahelegt. In einer entkernten Kirche sitzt das Publikum im Kreis auf dem Boden. 19 Tänzerinnen erkunden weibliche Klischees, zelebrieren später pathetische Frauenrituale, die sogleich wieder durch enthemmte Tänze gebrochen werden.
Dann wird die „Diner Party“ an drei Speisetafeln - inspiriert von der feministischen Künstlerin Judy Chicago - nachgespielt und lockt das Publikum an die Tische. Doch Chicagos Kitsch wird mit Slapsticks gebrochen: Tänzerinnen wollen sich selbst mit dem Besteck verspeisen. Manche öffnen ihre Blusen und breiten ihre langen Haare wie Spaghetti auf Tellern aus. Furiose Veitstänze beenden das Spektakel, es sind keine anmutigen Ballerinen, die zwischen den Zuschauern rasen, sondern wilde Erinnyen, die irgendwann lachend davontanzen.
Das Publikum wird emotional tief in die Szenen hineingezogen, erlebt die Darbietungen buchstäblich hautnah und verschmilzt optisch mit der Compagnie. Die häufige Blöße vieler Tänzerinnen ist kein provokativer Selbstzweck, sondern eine faszinierende Gradwanderung zwischen unschuldiger Verletzlichkeit und animalischen Kraft.
In beiden Stücken knüpft Waltz an frühere Erfolge wie „Körper“ an. Ihr Ensemble simuliert nicht Enge, Bedrängung oder Abhängigkeit, sondern ruft diese Empfindungen mit echten Berührungen und physischen Aktionen hervor: „Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum die Stücke eine so sinnliche Wirkung auf die Zuschauer haben. Es hat mit der Wahrhaftigkeit der Bewegung zu tun“, meinte sie dazu.
Fotos:
1 Kreatur © Sebastian Bolesch
2 Kreatur © Sebastian Bolesch
3 woman © Ute und Luna Zscharnt
4 woman © Ute und Luna Zscharnt
1 Kreatur © Sebastian Bolesch
2 Kreatur © Sebastian Bolesch
3 woman © Ute und Luna Zscharnt
4 woman © Ute und Luna Zscharnt