kpm Eine Laus im deutschen Pelz 72 dpiLiterarische Nachlese zu 1968

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Unter dem Motto „Eine Laus im deutschen Pelz“ veranstaltet der Verein PRO LESEN im Bibliothekszentrum Frankfurt-Sachsenhausen eine literarische Nachlese zum Jahr 1968.

Die Literatur, welche um das Jahr 1968 herum neue Maßstäbe setzte und folglich die allgemeinen Kultur- und Politikdebatten zunehmend mitbestimmte, speiste sich im Wesentlichen aus sieben Quellen, nämlich aus sozialistischen, überwiegend auf Marx fußenden Theorien, die sich seit Beginn der sechziger Jahre erneuert und profiliert hatten; staats- und kapitalismuskritischen Haltungen in den Kirchen, besonders in der protestantischen, wo versucht wurde, theologisch-ethische Konsequenzen aus dem Verhalten im NS-Staat zu ziehen; kulturkritischem bzw. kulturpessimistischem Denken, das in liberal-konservativen Kreisen des Bürgertums neu erwachte; der „Frankfurter Schule“, speziell aus dem von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfassten Werk „Dialektik der Aufklärung“; den soziologischen Schriften Wilhelm Reichs; Herbert Marcuses im amerikanischen Exil veröffentlichten Schriften, vor allem „Eros und Zivilisation“, „Der eindimensionale Mensch“ und „Repressive Toleranz“, mit denen er bereits großen Einfluss auf die US-amerikanische Studentenbewegung genommen hatte; den Gegenkulturen der sechziger Jahre, vor allem den Gammlern und Hippies.

Ähnlich vielfältig waren ihre Themen: Der Vietnam-Krieg, das Schah-Regime im Iran, die Ausbeutung der Dritten Welt, die Apartheid in Südafrika, die Fragwürdigkeit der Konsumgesellschaft, die von Georg Picht attestierte deutsche Bildungskatastrophe, die strukturellen Probleme der Universitäten, die Notstandsgesetzgebung, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, der Anti-Kommunismus der Adenauer-Zeit, der "restaurative" oder gar "faschistoide" Charakter der Bundesre­publik.

Letztere Vorwürfe waren bereits 1946/47 von Hans Werner Richter, dem Gründer der „Gruppe 47“, erhoben worden. Sie prognostizierten, dass die Entwicklung in Westdeutschland auf eine Wiederherstellung jener gesellschaftlichen Verhältnisse hinauslaufe, die schon in der Weimarer Republik zum Faschismus geführt hatten.

Hans Magnus Enzensberger, Literat und politischer Theoretiker gleichermaßen, hatte ebenfalls so argumentiert. In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift KURSBUCH hatte er 1967 geschrieben: "Das politische System der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. Man kann ihm zustimmen, oder man muss es durch ein neues ersetzen - ein Drittes gibt es nicht: Tertium non datur."

Doch zwanzig Jahre später korrigierte er sich in wesentlichen Punkten. So stellte er in seinem Essay "Mittelmaß und Wahn" fest: "Die Rede von der Restauration, ein in den fünfziger Jahren beliebter Topos, beruhte, wie wir heute wissen, auf einer Au­gentäuschung. Zwar taten die alten Nazi-Kader, was sie konnten, um als Bürokraten, Unternehmer und Richter das Gemeinwesen nach ihren Gesinnungen einzurichten, doch erwies sich ihr Projekt des "Wiederaufbaus" als aussichtslos und die Rückkehr zur Vorkriegszeit als Chimäre, [...] das Mittelmaß, das in dieser Republik herrscht, zeichnet sich durch ein Maximum an Variation und Differenzierung aus."

Eine Literatur, die sich mit den o.g. Fragestellungen auseinandersetzte, musste zwangsläufig auch die Protestbewegung der späten 60er Jahre sowohl mit hervorbringen als auch von dieser geprägt werden. Dennoch kam es um 1967/68 zum Konflikt, vor allem der neuen Intellektuellen mit der „Gruppe 47, die als harmlose, systemkonforme und systemstabilisierende Opposition kritisiert wurde. Enzensberger bezeichnete sie im KURSBUCH als "Alibi im Überbau" und sprach bereits vom "Tod der Literatur".

Diese Prophezeiung hat sich glücklicherweise nicht eingestellt. Aber es fällt auf, dass viele der arrivierten Schriftsteller zwischen 1966 und 1969 die neuen gesellschaftlichen Diskussionen in ihren Romanen und Erzählungen noch nicht aufgegriffen hatten.

Günter Grass setzte sich 1966 mit Bertolt Brechts Rolle beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in seinem Drama „Die Plebejer proben den Aufstand“ auseinander. Dabei saß er jedoch Falschinformationen auf, die das beabsichtigte positive Echo verhinderten. 1967 veröffentlichte er unter dem Titel „Ausgefragt“ einen Band mit Gedichten, die mehr Auskunft gaben über seine persönliche Innerlichkeit als dass sie die aktuellen Kontroversen aufgegriffen hätten. Sein Roman „örtlich betäubt“, der 1969 erschien, wirkte allzu synthetisch, um die Befindlichkeiten der jungen Generation authentisch wiedergeben zu können.

Siegfried Lenz thematisierte in seinem 1968 erschienenen Roman „Deutschstunde“ die Gegensätze Pflicht und Schuld während der NS-Herrschaft. Aber die Darstellung des Einzelnen, der dazu verpflichtet war, in einem Unrechtssystem gewissenlos zu funktionieren, blieb merkwürdig konturlos. Auch der Maler Emil Nolde, der leicht entschlüsselbar beschrieben wird, ein Antisemit und Bewunderer der Nazis, erwies sich als historisch falsch dargestellt. In einer Zeit, in der junge Menschen die Verlogenheiten, mit denen ihre Eltern und Großeltern sich abgefunden hatten, massiv infrage stellten und sogar heftig anfeindeten, hätte man von einem prominenten Schriftsteller Deutlicheres erwartet.

Erst mit Verspätung reagierte Heinrich Böll auf die Entwicklung. War der 1971 vor­gelegte Roman „Gruppenbild mit Dame“ noch sehr stark der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit vorbehalten und kamen die Verweise in die Realität der 60er Jahre eher zwischen den Zeilen zum Vorschein, illustrierte die 1974 erschienene Er­zählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ die aufgeheizte Stimmung, die von der „Rote Armee Fraktion“ ausgelöst worden war. Auch die von Konservativen aufgestellte Behauptung, die RAF sei eine konsequente Folge der 68er gewesen, wird von Böll vehement zurückgewiesen und als bewusste Geschichtsklitterung entlarvt. Noch konkreter im Hier und Jetzt bewegte sich Böll in seinen Essays und Reden, die 1967 als umfangreicher Sammelband erschienen.

Zeitgeschichtlich akzentuiert war Uwe Johnsons vierteiliger Roman „Jahrestage“, der 1970, 1971, 1973 und 1983 erschien. Hierin spannte der Autor einen Bogen von der Nazi-Zeit über die deutsche Teilung und den verspielten Chancen des Sozialismus in der DDR bis hin zu den Realitäten des freien Westens, der in Vietnam dabei war, seine moralischen Ansprüche endgültig zu verlieren. Außergewöhnlich ist auch die Perspektive. Denn diese entspricht der Sicht einer deutschen Einwanderin in New York, die ihrer Tochter mittels Tonbandaufzeichnungen die Geschichte ihrer Familie erzählt.

Hans Magnus Enzensberger dokumentierte die Zeit vor und nach 1968 in seiner Zeitschrift KURSBUCH. Bereits im Jahr 1967 erschienen einige seiner zeitkritischen Anmerkungen unter dem bezeichnenden Titel „Deutschland, Deutschland unter anderm“. Auch der Dramatiker Peter Handke mischte sich mit Essays und provozierenden Reden ein und zeigte die Heterogenität dieser Epoche.

Foto:
Grafik aus dem PRO LESEN-Plakat Juni 2018
© PRO LESEN e.V.

Info:
Die 73. PRO LESEN-Themenwoche findet vom 18. bis 23. Juni im Bibliothekszentrum Sachsenhausen statt und besteht aus einer täglich geöffneten Buchausstellung sowie einer Lesung am Donnerstagabend, den 21. Juni. Der Eintritt ist frei.