c merzbacherAus der tragischen Geschichte der Familie Merzbacher  

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - Werner Merzbacher wuchs mit seinem älteren Bruder Rolf in Öhringen auf. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten konnte der Vater als Weltkriegsteilnehmer und Ordensträger seine Arztpraxis fortführen. Als aber Rolf 1936 der Besuch des Progymnasiums versagt wurde, kam er zu den Großeltern Ida und Jakob Haymann nach Konstanz und besuchte von dort in der Schweizer Nachbarstadt Kreuzlingen, in der die Haymanns eine Filiale ihres Geschäfts hatten,­ die Schule.

Ende 1937 wurde der Vater in Heilbronn zu einer zweimonatigen­ Gefängnisstrafe verurteilt, nachdem er auf eine antisemitische Provokation eines HJ-Pimpfes­ hereingefallen war und Stockschläge ausgeteilt hatte. Die Eltern gaben die Arztpraxis auf und zogen nach Konstanz. Julius Merzbacher wurde dort nach der Reichs­pogromnacht 1938 verhaftet und einen Monat lang im Konzentrationslager Dachau festgehalten.

Werner konnte am 16. Februar 1939 mit einer Gruppe jüdischer Kinder in die Schweiz einreisen und wurde in Zürich von zwei Damen erzogen. Seine Einbürgerung wurde später wegen der Erkrankung des Bruders abgelehnt, weshalb er in die USA auswanderte. Seit 1964 lebt er mit seiner Familie in der Schweiz. Merzbachers Eltern wurden im September 1942 in das Camp de Rivesaltes, im Oktober in das Sammellager Drancy und am 6. März 1943 in das Konzen­trationslager Majdanek deportiert, wo sie ums Leben kamen.

Die Nazis hatten Rolf Merzbacher 1941 die Staatsbürgerschaft aberkannt, und er kam als 16-Jähriger in ein Arbeitslager für Flüchtlinge nach Davesco im Tessin. 1944 trat er freiwillig in eine Klinik ein; es wurde zunächst die Diagnose auf hebephrene Schizophrenie und alsbald auf erblich bedingte Schizophrenie gestellt. Merzbacher versprach sich Heilung von der relativ neu entwickelten Elektroschocktherapie. Sein psychischer und körperlicher Gesundheitszustand wurde dabei aber so schlecht, dass er dauerhaft in der Klinik bleiben musste.

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die Klinik und die Fremdenpolizei des Kantons Thurgau, den unerwünschten jüdischen Immigranten nach Deutschland abzuschieben, da dort der Antisemitismus nun nicht mehr lebensgefährlich wäre und der Kranke ohnehin nichts von der Veränderung bemerkte. Sein Vormund und die Israelitische Gemeinde in Kreuzlingen verhinderten dies und brachten ihn in der psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur unter. Dort verstarb er.

Die Geschichte Rolf Merzbachers ist im Buch «Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie­ und Wiedergutmachung» im Chronos-Verlag erschienen.

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. Juni 2018
Gregor Spuhler. Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung, Chronos Verlag