a.menassezur Verleihung des Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreises 2019 an Eva Menasse

Norbert Himmler

Mainz (Weltexpresso) - Lieber Herr Oberbürgermeister Ebling, liebe Frau Grosse, lieber Herr Kaube, liebe Frau Menasse, meine Damen und Herren, 
vor etwa einem Jahr stand Eva Menasse, die wir heute als neue Mainzer Stadtschreiberin feiern wollen, vor der Aufgabe, das Internationale Literaturfestival in Berlin mit einer Rede zu eröffnen. Doch statt den Niedergang des Lesens zu beklagen oder die Bedeutung der Literatur zu beschwören, hielt sie eine leidenschaftliche Rede gegen "digitale Gespenster", gegen die negativen Phänomene des Digitalen Zeitalters.

Eva Menasse hielt den Zuhörern ungeschönt die destruktiven Aspekte der digitalen Revolution, die Auswüchse der sozialen Netzwerke vor Augen: die Radikalisierung extremer Meinungen, die Festigung eindimensionalen Denkens, schlicht den Verlust der Freiheit: Die Mitte, "das Abgewogene [sei] für den Diskurs verloren".

Ich zitiere weiter: "Daumen rauf, Daumen runter [...]. Das macht alles Verwirrende einfacher, aber es macht eine vormals liberale Gesellschaft deutlich enger und inquisitorischer." Extreme politische Stimmen nutzen den – in Ihren Worten – "Daten- und Meinungsmüll, der uns hysterisch, zynisch und desorientiert werden lässt" für sich als "Propaganda neuen Stils".

Der Radikalisierung, den kleiner werdenden Spielräumen im Denken, all diesen Veränderungen und Herausforderungen der digitalisierten Welt sieht sich auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk gegenüber. Einerseits als Objekt der aktuellen medienpolitischen Debatte andererseits als Beteiligter an öffentlichen Diskursen, der immer wieder entscheiden muss, wie stark er die sozialen Medien selbst aktiv nutzen kann und will. Wir als öffentlich-rechtliches Fernsehen wollen uns in den digitalen Kosmos einbringen, müssen es sogar. Gegen Fake-News, gegen Filterblasen und Hypes.

Vor kurzem haben wir zum Start in Berlin den neuen digitalen Kulturraum ZDFkultur vorgestellt. Das ZDF geht dorthin, wo die jüngeren Nutzerinnen und Nutzer sind, ins Netz, auch in die sozialen Netzwerke. Denn als nichtkommerzielles Programm haben wir einen Demokratieauftrag, einen Integrationsauftrag und eben auch einen Kulturauftrag. Wir bündeln mit unseren Expertinnen und Experten im Sender und gemeinsam mit wichtigen Kulturinstitutionen alles, was die Zuschauerinnen und Zuschauer von Kultur erwarten können. Von Konzerten und Theater bis zu Design und Gaming. Und natürlich auch immer Literatur bis hin zum Mainzer Stadtschreiber-Preis. Als Medienproduzenten und gesellschaftliche Institution sehen wir uns zur professionell recherchierten Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit verpflichtet. Ich bin davon überzeugt, dass wir hier ein Zeichen für Meinungsvielfalt und Offenheit gegen Lüge und Hetze setzen können, inmitten der digitalen Fragmentierung.

Denn dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, jedem Medienschaffenden und Künstler, jedem Mitglied unserer Gesellschaft kommt eine individuelle Verantwortung zu. Früher gab es große Stimmen, die als moralische Gewissen der Nation fungierten. Leitfiguren, vor allem Günter Grass, aber auch Heinrich Böll und Max Frisch, mit denen Eva Menasse sich literarisch immer wieder auseinandersetzt, waren solche.

Doch in den defragmentierten und zugleich maximal radikalisierten Zeiten, in denen wir leben, brauchen wir Autorinnen und Autoren, die sich öffentlich einmischen. Für Bürgerrechte, für Selbstbestimmung auch und gerade im Digitalen. So wie Eva Menasse und ihre Kolleginnen und Kollegen. Die sich beispielsweise für eine Charta der Digitalen Grundrechte in der Europäischen Union engagierten. Die sagen, ich zitiere: "Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr."

Denn es gibt sie auch heute noch, die großen moralischen Stimmen, die Mahnenden. So wie Eva Menasse, wie Juli Zeh oder unsere ehemaligen Stadtschreiber Ilija Trojanow und Josef Haslinger, die jetzt in unserer Stadtschreiberjury sitzen. Denn – hier zitiere ich abermals Eva Menasse – "Was man für richtig hält, was man in Ruhe begründen kann, muss man sagen, egal, wer applaudiert, wer protestiert, egal, ob es einen Shitstorm gibt."

Trägheit, Gefräßigkeit, Wollust, Zorn, Hochmut, Neid und Habgier. Fast könnte man meinen, mit diesen starken Worten sind die niedrigsten Eigenschaften des Internets präzise beschrieben. Doch ich spreche von den sieben Todsünden, die es schon lange vor der digitalen Revolution gab. Diese haben nicht nur seit jeher Autorinnen und Autoren zu großer Literatur inspiriert, auch Eva Menasse hat sie in ihrem Band "Lässliche Todsünden" zum Thema gemacht.

Ein Titel der paradox klingt. In diesem Band von Erzählungen, den ich mit Bewunderung gelesen habe, kommt in der Tat niemand ins Fegefeuer. Und doch fragt sich der Leser mit Eva Menasse, ob das Konzept Sünde nicht auch in unserer ausgenüchterten Zeit noch weiterwirkt. In "Lässliche Todsünden" sind die Menschen Paare zumeist, vielfach Familien mit unguten Konstellationen, Fremdgänger, Verliebte und Betrogene, kleine oder größere Sünder, ohne dassEva Menasse dies moralisch wertet.

Michael Naumann sprach in der ZEIT in seiner Rezension vom Glück der Lektüre über das Unglück anderer Leute. Zum Glück des Lesens gehört, dass Eva Menasse jedoch nie billige Schadenfreude aufkommen lässt. Sie erhebt sich nicht über ihre angeschlagenen Heldinnen und Helden. Daher kommen uns die Figuren wie Rument, Cajou, Fiona, Martine und der träge Fritz erstaunlich nahe, ganz getreu ihrer ersten Maxime: "Liebe jede einzelne deiner Figuren". Mit Eleganz, Humor und Ironie nimmt sie die Welt des Wiener Kulturmilieus bis in die kleinste Gefühlsregung auseinander und setzt sie kunstvoll wieder zusammen.

Zum Schluss möchte ich noch einmal analog werden und unsere neue Mainzer Stadtschreiberin wörtlich zitieren. Auf die Frage, wie sie schreibe, antwortete Eva Menasse: "Mein größtes Problem ist, dass ich nicht aufhören kann. [...] Wenn es gut läuft, ist es fast schlimmer, wie in dem Märchen mit dem süßen Brei. Man kann schon nicht mehr, will der quellenden Masse aber Herr werden, den Reichtum an sich raffen, bis zuletzt."

Möge diese überquellende Kreativität und Schaffenskraft auch Ihr Jahr als Mainzer Stadtschreiberin prägen. Ich freue mich, dass Sie die Mainzer Stadtschreiberin des Jahres 2019 sind, und bin gespannt darauf, welches Thema Sie sich für die Dokumentation vornehmen, die Sie gemeinsam mit dem ZDF produzieren werden. Seien Sie jederzeit bei uns im ZDF auf dem Mainzer Lerchenberg herzlich willkommen.

Herzlichen Dank!

Foto:
Eva Menasse
© ZDF/Jana Kay