Wolfgang Mielke
Weltexpresso (Hamburg) - Diese beiden Spiel-Ebenen also, die Volker Lechtenbrink für sich einnimmt, übertragen sich zwar sofort. Was sich jedoch nicht überträgt, ist, dass das Stück, wie er sagt, "sich im Kopf des Narren abspielt". Dazu sind die Vorgänge zu gleichzeitig, zu parallel, vor allem durch die wenig glückliche Idee, die Bühne – und schon als Schauplatz beleuchtet – sich erst auf ihre Anfangsposition eindrehen zu lassen.
Diese ja durchaus mögliche Idee Lechtenbrinks hätte man aber leicht zeigen können: indem er mit einem Fingerschnipsen das Licht auf die Versuchs-Insel hätte werfen – und am Ende wieder auslöschen - lassen. Regie ist ja vor allem zuerst einmal Klarheit und Ordnung. Kunst überhaupt. Beides fehlt hier weitgehend – und wäre doch so einfach gewesen! Aber schon der Ansatz, wie die Figuren Shakespeares gesehen werden, zeigt, dass die Sache nicht aufgehen konnte: "Meine Fantasie war", so Volker Lechtenbrink, "es sollte auf einem Eiland spielen, das völlig anders ist als die normale Welt. Alle Figuren sind auf ihre Art nicht normal." -- Da hakt man schon ein: Wenn es keinen Bezug zur Normalität gäbe, der uns als Zuschauer anginge, würde das Stück in einem Tollhaus spielen, - und das wäre uninteressant, - außer wir sind bei Peter Weiss (1916 – 1982) in Charenton. Da aber wirkt die Französische Revolution (oder unser Bild von ihr) als korrigierender Gegensatz.
Imgrunde war schon beim Öffnen des Vorhangs sofort klar, dass das kein gelungener Abend wird. Das lag auch an dem Mangel an Spannung, auch bei Volker Lechtenbrink. Wie anders war da Stroux! Angespannt, nervig, ernergiehaft, treibend, während Volker Lechtenbrink immer wieder den Eindruck erweckt, unbeteiligt zu sein; völlig entspannt, als würde er mit Figuren aus einem Panoptikum umgehen, die ihn niemals betreffen können. Aber keine Spannung heißt auch keine Erwartung. Und das überrascht denn doch insofern, als er selbst der Regisseur des Abends ist. Manches von Lechtenbrink wird natürlich im Gedächtnis bleiben, vor allem immer wieder seine Stimme. Der Rest, selbst Roland Renner als Malvolio, gewinnt wenig Profil.
Die Aufführung hat ein aufwendiges Bühnenbild, das die Schiffshavarie in den Mittelpunkt stellt. Für die Seefahrer-Nation England war eine Schiffshavarie Allgegenwart. Aber warum nicht, wenn man schon so einen schön aufragenden Schiffsbug sich gebaut hat, auf der Drehbühne, warum nicht diesen Schiffsbug am Anfang direkt zum Publikum hindrehen? Besser natürlich noch: Schon hingedreht haben! - Warum also nicht gleich am Anfang, - denn die Inszenierung fängt mit dem Schiffbruch an statt mit der Szene an Orsinos Hof mit den berühmten Worten: "Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist,/ Spielt weiter ..." -- in der Schlegel-Tieckschen Übersetzung, die allerdings nicht verwendet wird, sondern eine hausgemachte, aber nicht sprachkräftige Übersetzung Volker Lechtenbrinks – diesen Schiffsbug produktiv und klärend nutzend?
Natürlich sind solche Szenen-Umstellungen möglich. Es ist ja nicht einmal sicher, dass der überlieferte Text der ursprünglichen Ordnung Shakespeares entspricht. Dagegen ist also überhaupt nichts zu sagen. Warum aber nicht gleich die beiden Zwillinge, einen links, einen rechts vom Schiffsbug positionieren und dann jeweils in die eine und in die andere Richtung abgehen lassen, warum nicht solche produktive Teilung, die sofort die Situation klar macht? Denn beide werden ja getrennt und überleben ahnungslos getrennt. Warum wird nicht hier sofort eine saubere und klare Inszenierung aufgebaut?
Auf der einen Seite befindet sich dann die Welt des Herzogs Orsino; auf der gegenüberliegenden dann die des Edelfräuleins Olivia. Die kindliche Überraschung, die am Ende im Stück aufgelöst wird, dass beide Schiffbrüchigen Zwillinge sind, ist für das Publikum ja keine Überraschung, wenn - wie hier - die beiden Zwillinge unübersehbar von zwei verschiedenen Schauspielern gespielt werden! Das Versteckspiel fürs Publikum ist also völlig sinnlos. Das Zwillingsmotiv ist in der Literatur ja schon uralt. Shakespeare hat es auch schon in der "Komödie der Irrungen" verwendet. Es stammt aus den Menaechmi des Plautus. (Übrigens ein geschickt gebautes und sogar witziges Stück, das noch heute interessiert, aber nie mehr aufgeführt wird.) Die Zellteilung in zwei gleiche Wesen ist jedenfalls ein altes Motiv, das man an der Teilung am Schiffsbug schön hätte zeigen können. Denn, wie gesagt, das Überraschungsmoment, das für die Figuren im Stück vor sich geht, ist ja nicht überzeugend spielbar, wenn man zwei verschiedene Schauspieler agieren sieht, die trotz gleicher Kleidung natürlich doch sofort für den Zuschauer jede Verwechslung ausschließen. -- Im Berliner Schillertheater spielte das in der Spielzeit 1984-85 nur eine einzige Schauspielerin, nämlich Katharina Thalbach. Abgesehen davon, dass jene Aufführung unerreichbar besser und durchdachter war, war dort natürlich der Irrtum spielbar. Wie die Auflösung geschah, weiß ich allerdings nicht mehr. Da mehrere Spiegel auf der Bühne waren, könnte ich mir nachträglich vorstellen, dass die Thalbach sich auf diese Weise verdoppelte. Also: Ohne echte Zwillinge krankt das immer. Man kann es also auch gleich bekannt geben.
Das Bühnenbild wird übrigens weniger intensiv bespielt, als es möglich wäre. Man hätte da noch einiges mehr aus dem Schiffsrumpf herausholen können. Weiter: Die Musik. Der Buffo-Hofstaat bestehend aus Maria, Rülp und Bleichenwang, wobei Rülp ja ein ebenfalls adliger Verwandter der Olivia ist, der nur Rülp heißt, weil er wegen seines Alkoholkonsums zum Rülpsen neigt; wobei auch Bleichenwang ein, wenn auch degenierter und etwas debiler Adliger ist. Sie aber sind die Komiker des Stückes, und das versuchte die Inszenierung auch unüberseh- und unüberhörbar zu machen. Sie treten auf mit einer Musik wie aus "König der Löwen", "Hakuna Matata" meint man zu hören. Aber das Warzenschwein "Pumba" und das Erdmännchen (also eine Dick und Doof – oder Laurel und Hardy – Variante, die ja auch natürlich dem fülligen Tobias Rülp und dem schmalbrüstigen Bleichenwang entspricht) wird im Film und Musical konsequenter durchgehalten. Also: Wenn man schon diese Idee und Anspielung entleiht, dann sollte man sie konsequenter verwenden und letztlich ja nutzen; warum also ganz stehlen, aber nur halb ausnutzen? - Halb genutzt werden nur sollte sie aber vom Personal, das sie singt! Wenn Tobias Rülp und Bleichenwang sie singen, ist das in Ordnung, denn der Text heißt übersetzt soviel wie "keine Probleme", "keine Sorgen". - Maria aber müsste, wenn sie das schwankhafte Lied mitsingt, sich doch dann deutlich von ihm distanzieren; denn Marie ist die einzige an diesem Hof, die die Übersicht behält, die 'den Laden schmeißt'. Denn ihre Herrin, Olivia, hat sich der Verantwortung weitgehend durch ihre Trauer, Wehleidigkeit und später umso mehr durchbrennende Verliebtheit entzogen. Sie, Maria, ist die Organisatorin des Haushalts, weit mehr als Malvolio, der zwar der Haushofmeister ist, den aber seine Überheblichkeit und Arroganz isolieren.
Dann wird manches im Text gestrichen, das die Klarheit der Handlung unnötig vermindert und den Aufbau vor allem des Streichs gegen Malvolio kappt. Die beiden adligen Saufbrüder ärgern sich über Malvolios Arroganz, die sie auch deswegen für unangemessen empfinden, weil Malvolio nicht verwandt mit Olivia und nicht 'von Adel' ist. - Das ist der Punkt, den Maria nicht nur durchschaut und an dem sie mit ihrem Brief ansetzt; sondern – und das fehlt als Information ans Publikum - Maria sagt, ihre Handschrift gleiche genau der von ihrer Herrin Olivia. (In Lechtenbrinks Inszenierung wird das erst in der Auflösung, also nachträglich, bekannt gegeben.) -
Nur dadurch aber ist es möglich, Malvolio zu täuschen. - Immer wieder der Versuch, das Publikum selbst raten zu lassen und zu überraschen, was auch hier nichts bringt, nämlich keine Beteiligung, sondern Abschalten und Verstimmung. Die Inszenierung ist, wie nicht überrascht, wenn man das Stück kennt, auf die Vorfreude der Verspottung Malvolios angelegt. Und genau vor diese Szene wird die Pause gelegt. Da aber so viele Informationen unsinnigerweise gestrichen wurden, ist entsprechend die Vorfreude auf die Traktierung Malvolios vermindert. Wer das Stück nicht kennt, blickt nicht durch.
Daher in der Pause etwas zurückhaltende Stimmung. - Ich höre in manchen Gesprächen, dass das Publikum die Handlung überhaupt nicht verstanden hat. Das ist natürlich ein Bankrott-Urteil für die Regie. Ohne Verstehen keine Vorfreude, nicht einmal Erwartung. - Hinzu kommt: Roland Renner als Malvolio verschenkt viel von den Möglichkeiten seiner Rolle, das ist schade. Malvolio ist derjenige Hausangestellte, der sich für Höheres bestimmt fühlt. Daher behandelt er die trunkene Bagage verächtlich. Seine Düpierung gelingt deswegen, weil Maria mit seinen geheimen Wünschen Schindluder treibt. Der Aufbau seiner Rolle durch die Regie muss so klar sein, dass die Zuschauer ähnlich empfinden wie Bleichenwang und Rülp; jedenfalls so, dass sie denken: 'Ein kleiner Dämpfer kann dem nicht schaden!' - und sich darauf freuen. - Malvolio hat zwei Szenen: Die Briefszene, in der er den gefälschten Brief findet und den Köder voll und ganz schluckt; und die Erfüllungsszene der Forderungen des Briefes. Die Kleidung, die er sich anlegt, muss dabei so absurd sein, dass sie sogar für uns heute eine komische Wirkung entfaltet. Einen Dress-Code gab es damals am Hof ganz zweifellos, sogar für den Narren waren die Grenzen eng gesetzt; für uns muss das etwas übertrieben ausgeführt werden, weil sich unsere Kleidungsvorschriften und -gewohnheiten entsprechend gelockert haben. Das ist möglich. Hier erscheint es etwas zu zurückhaltend. -- Leider sah ich nie den wunderbaren Thomas Holzmann (1927 - 2913) als Malvolio, nur die Fotos seines Auftritts; die waren aber schon besser als das, was Roland Renner hier bot, bieten durfte. - Aber dann kommt die Wende: Das Lachen muss einem doch dann im Hals steckenbleiben, wenn man begreift, dass hier ein Mensch verleitet und vorgeführt wird; dass das Spiel zu weit geht; dass Malvolio einerseits zum Affen gemacht wird, andererseits aber erbärmlich durch die Leichtigkeit, mit der er sich aus der Reserve locken lässt – in die Falle gelockt wird; dass hier ein Mensch vernichtet wird (und am Stück-Ende ja auch nicht mitlacht oder verzeiht, sondern auf Rache sinnt). -
Zuerst also Spott-Gelächter, dann Erbärmlichkeit, Mensch und Mitleid. Das fällt hier zu einem großen Teil weg. Wird gar nicht gesehen. Es gibt auch niemand am Haus, der hier korrigierend eingreift. Vielleicht aus zu großer Pietät vor Volker Lechtenbrink? - An vielen Theatern gilt der Dramaturg der 'erste Zuschauer'. Und das hat nicht nur eine zeitliche Bedeutung, die ja nicht sehr überraschen kann, sondern vor allem eine qualitative Bedeutung. - Vielleicht wird das im Ernst-Deutsch-Theater anders organisiert. - Aber so gibt es keinen, der sagt: "Die Konzeption ist gut und machbar, aber die Umsetzung funktioniert noch nicht, ist ungenügend." ------------
Roland Renner ist ja ein Schauspieler, der zu sehr guten Leistungen fähig ist. Ich sah ihn schon großartig als Gobbo Lanzelot in Shakespreares "Kaufmann von Venedig" – noch mit dem uralten, männchenhaft zusammengeschrumpften, aber immer noch präzise und großartig spielenden Erwin Faber (1891 - 1989), am Münchner Residenztheater, damals unter Alfred Kirchners (*1937) Regie, vor 35 Jahren. Damals war er launig, beweglich, frech. - Später als "Idiot" in einer Inszenierung von Wilfried Minks (1930 - 2018) am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, staunend, ungläubig, naiv. Und noch in einigen anderen Rollen. Er ist jetzt ein gestandener älterer Herr geworden, der manches in Haltung und Ton aus Malvolios Welt zeigt, aber die Menschenvernichtung, die wirkliche Tragik und Jämmerlichkeit schuldig bleibt oder nicht zeigen darf.
Die Inszenierung bleibt flach und allzu oft harmlos-amüsant. So werden die Fechtszenen zwischen Bleichenwang und Cesario sehr breit, zu breit ausgespielt. Boshafte Leute würden jetzt vielleicht sagen: Ja, wenn man sich schon einen Fecht-Spezialisten holt und bezahlt, muss sich das auch lohnen. Immer wieder die Frage nach der Ökonomie des Werkes. - Orsino bleibt mehr oder weniger farblos. Ist ohnehin die schwächere der beiden Fürstenrollen. Seine Möglichkeiten bestehen meistens vor allem in der Poesie der Sprache. Aber die verwendete Übersetzung hat keine große Kraft. An guten Shakespeare-Übersetzungen seit 250 Jahren fehlt es ja nun wirklich nicht. - Wenn nicht ein besonderer Sprecher und Schauspieler die gegenwärtigen Sätze spricht, wie allen voran Lechtenbrink, teils auch Roland Renner, teils auch die Viola-Spielerin Ines Nieri, bleibt nichts davon im Gedächtnis. Die Olivia (Stella Roberts – und als 'Nora' noch in guter Erinnerung) spricht immer in einem manierierten Ton, der alles lang zieht, dehnt, tragend und bedeutend macht, das Klischee eines Edelfräuleins, leider nur das Klischee. Es heißt im Stück, sie habe den Männern abgeschworen: Weshalb sie trotzdem mit bloßen Beinen und einem neckischen durchsichtigen barocken Reifrockgestellchen herumläuft, ist unverständlich. Das kann sie, wenn man auf dieser Idee schon beharrt, machen, erst als und sobald sie in die Liebe zu jenem undurchsichtigen Zwitterwesen Viola/Cesario entbrannt ist. "Nichts ist erregender als eine vom Glauben abgefallene Katholikin", sagt Woody Allen (*1935). Also, wenn die Sicherungen durchbrennen, dann kann sich das Verhalten umkehren: Aus der Altjüngferlichen, Prüden wird eine wollüstig Entflammte. - Leider fällt auch diese Entwicklung unter den Tisch. - Und niemand, der die nötige Klarheit in die Sache und die Vorgänge bringt.
Überhaupt die Willkür der Kostümierung: Eine Linie wird da nicht sichtbar. Was gibt es für großartige Kostümbildner, allen voran die leider schon verstorbene Moidele Bickel (1937 - 2016), die an der einst tempelhaft berühmten Berliner Schaubühne, unter Peter Stein (*1937) und Klaus Michael Grüber (1941 - 2008), unersetzbar war. Klang oder Mißklang, das ist ja immer die Frage. Schafft man eine Stimmigkeit oder verpasst man sie. Sieht sie vielleicht gar nicht? - Der Tiefpunkt des Abends ist die Karikatur eines Paters als unfreiwillig 'komische' und ungeschickte Gestalt. - Man versucht, einen Traum zu inszenieren. Anklänge an den "Sommernachtstraum" schimmern durch. Auch ein Zitat aus "Wie es euch gefällt". Der Versuch eines Traum-Märchens auf dem sich immer wieder drehenden Eiland, auf das sich Volker Lechtenbrink immer mal wieder begibt, um zu kommentieren oder abschließende Worte zu sprechen, - die mit der Knallbonbon-Überraschungs-Verkündigung "Was ihr wollt!" an die Zuschauer endet. - Der Versuch eines "Sommertagtraums" ...
Ohne Klarheit. Ohne Fallhöhe. Ohne genügende Charakterzeichnung. Zu viel "Hakuna Matata". - Manches wird allerdings doch in Erinnerung bleiben, denn die ursprüngliche Idee der Inszenierung ist tragfähig; es fehlt nur der Regisseur dazu. - Das hellrötlich-orange Licht wird in Erinnerung bleiben. Die wüstenartige südliche Trauminsel-Bühne (wie im "Sturm") und Volker Lechtenbrink im leicht zerknitterten hellen Straßenanzug – mit seiner Stimme ... -
Am Ende wird auf der Bühne nachträglich zum Geburtstag gratuliert – und im Foyer steht eine Geburtstagtorte bereit - in der Form seiner "Was ihr wollt" – Insel ...
Am Premieren-Abend gab es – ein Glücksfall für jedes Theater! – sogar eine Warteliste. Während der Pause lichteten sich schon die Reihen etwas. Bei späteren Aufführungen, - das habe ich von 'späteren' Zuschauern gehört -, soll es am Ende nur noch sehr spärlichen Applaus gegeben haben. - Ich plädiere ja seit langem für eine Umsatzbeteiligung von Regisseuren. Im Film in Hollywood gibt es das auch; auch für Schauspieler.
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