Das Angebot von Wikipedia
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nur beschränkt zuverlässig und nicht frei von Einflussnahmen, aber wegen seiner 2,5 Millionen Einträge gewaltig.
So kann man die Einschätzungen von Wohlmeinenden über die deutschsprachige Variante der Internet-Enzyklopädie WIKIPEDIA zusammenfassen. Und möglicherweise ist es das hinterhältigste Kompliment, das man dem gerade 20 Jahre jung gewordenen Internetlexikon machen kann, wenn man es mit Desinformationsmedien wie Facebook vergleicht und anschließend ein Loblied anstimmt. Denn in den letzteren wird nicht informiert, sondern getratscht, geprahlt, gelogen sowie diffamiert und es werden Verschwörungsideologien, Rassismus und rechtsradikale Hetze verbreitet. Wikipedia setzt hier andere Standards.
Hingegen ist es unerlässlich, Wikipedia anderen Universalenzyklopädien wie dem Großen Brockhaus sowie diversen Fachlexika gegenüberzustellen. Die Brockhaus-Online-Enzyklopädie (mittlerweile nur noch online verfügbar und gebührenpflichtig) basiert auf den 300.000 Sachartikeln der 30-bändigen Druckausgabe von 2006, die ständig aktualisiert und erweitert werden. Die leitende Redaktion umfasst sieben Wissenschaftler, welche die alten und neuen Beiträge der externen Fachleute überprüfen.
Wikipedia fehlt eine Redaktion und damit eine verantwortliche Instanz, die man von einem Massenmedium allein aus presserechtlichen Gründen erwarten darf. Fachliche Zugangsvoraussetzungen für Autoren, unter denen sich erkennbar unzählige Amateure befinden, sind nicht bekannt. Eine solche Konstruktion führt zwangsläufig zu inhaltlichen Fehlern und deren ungebremster Verbreitung. Ein besonders aktiver Teil der Hobby-Redakteure stößt bei seinen Überprüfungen zwar regelmäßig auf Falschinformationen und korrigiert sie. Doch das betrifft im Wesentlichen nur eher populäre Themen, die von den Nutzern häufiger angeklickt werden. Irreführungen bei komplexeren Zusammenhängen und Spezialistenwissen bleiben entweder unerkannt oder werden mit allgemeinen Warnhinweisen versehen, die dem interessierten Laien aber kaum weiterhelfen, was bei den Anwendern zu einer Kette von Fehlern führen kann. Wenn aber nur stark nachgefragte Inhalte als vertrauenswürdig gelten können, geht die wesentliche Eigenschaft einer Enzyklopädie verloren. Denn die basiert auf umfassender und bis ins Detail korrekter Darstellung. Dieses Manko wird verschärft durch das Einschleusen von PR-Beiträgen aus Unternehmen, Verbänden und politischen Parteien. Was bei oberflächlicher Betrachtung als differenzierte Beschreibung wirkt, erweist sich beim genauen Lesen als Vermittlung einseitiger Interessen. Diese Art von Manipulation ist eleganter als bei Facebook, aber von ähnlicher Wirkung.
Ein anderer wunder Punkt ist das Abschreiben von Sachartikeln aus anderen Nachschlagewerken. Damit das Verfahren nicht auffällt, wird um- und neuformuliert. Diese Kunst beherrscht in der Regel nur, wer sowohl fachlich als auch sprachlich bestens bewandert ist. Folglich finden sich in Wikipedia zu viele Texte, die zwar eine korrekte Arbeitsgrundlage vermuten lassen, die aber durch unzureichenden sprachlichen Ausdruck verwässert bis verfälscht wurden. Ähnlich beliebt ist das Kürzen. Hierbei fallen allzu häufig unverzichtbare Elemente der Schere des Bearbeiters zum Opfer, was den Wert eines Artikels drastisch reduziert.
Kollegen und mir sind solche dilettantischen Plagiate aufgefallen beim Nachrecherchieren von Wikipedia-Einträgen in den Bereichen Literatur-, Religions- und Rechtswissenschaft. Hierzu benutzten wir die Nachschlagewerke „Kindlers Literaturlexikon“, „Killy Literaturlexikon“, „Religion in Geschichte und Gegenwart“ und „Creifelds, Rechtswörterbuch“. Entsprechende Hinweise auf die offensichtliche Benutzung dieser Werke fehlen in den Artikeln.
Die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte im Jahr 2012 einen Beitrag über die Nutzung von Wikipedia durch Journalisten. Die meisten der Befragten vertrauten damals diesem Online-Lexikon und nutzten es für ihre eigene Recherche. Neun Jahre später ist es anscheinend immer noch beliebt, wenn auch offenbar mehr als erste Groborientierung. Demgegenüber gilt es an den meisten Hochschulen bei wissenschaftlichen Begriffen als nicht zitierfähig. Höher im Kurs scheint es an manchen allgemeinbildenden Schulen zu stehen. Ob das an schlecht informierten Lehrern oder an allzu bequemen Schülern liegt, lässt sich nicht feststellen.
In der deutschen Wikipedia-Community wird an einer maschinenlesbaren Hintergrunddatenbank gearbeitet, die Wikidata genannt wird. Das Projekt gründet auf der Überzeugung, das die Zukunft der künstlichen Intelligenz gehören würde und folglich die Weichen rechtzeitig gestellt werden müssten. Dem stehen Warnungen von Wissenschaftlern entgegen. Rudolf Seisling, der das Forschungsprojekt IGGI (Ingenieur-Geist und Geistes-Ingenieure) am Forschungsinstitut des Deutschen Museums in München leitet, bewertet die KI skeptischer: „Menschen denken, lernen und wissen etwas, ein Computer denkt, lernt und weiß nichts. Erst recht nimmt er weder eigene noch fremde Gefühle wahr. Ein Computer ist kein intelligentes, sondern ein datenverarbeitendes System. Er verknüpft mit den aus Daten oder Zeichen zusammengesetzten Nachrichten keine Bedeutungen und keine Absichten, er kann nicht denken und er hat kein Bewusstsein.“
In Wikipedia findet man übrigens nichts über ihn und seine Theorie.
Foto:
Audiostudio der Brockhaus-Enzyklopädie auf der Frankfurter Buchmesse 2005
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