DAS JÜDISCHE LOGBUCH Mitte November
Yves Kugelmann
Berlin, November (Weltexpresso) - Diese Laudatio sollte Deutschland so schnell nicht vergessen. Diesen Abend sollten Deutschland und Europa nicht so rasch vergessen. Stehende Ovationen im Berliner Ensemble am Ende eines denkwürdigen und wohl auch historischen Abends: Der Liedermacher Wolf Biermann wird zum 85. Geburtstag geehrt.
Drei Stunden lang standen seine Gedichte, seine Lieder, sein Werk im Zentrum des Berliner Ensembles. Jenem Berliner Ensemble im Brecht-Theater, in dem Biermann vor über 50 Jahren als Regieassistent begonnen hatte. Ovationen für ein Werk, das Satz für Satz für Freiheit kämpft, Zeugnis ablegt, die Regime und Obrigkeiten demontiert. Zum Schluss des Abends singt Biermann fünf Lieder und mahnt die versammelte Politprominenz mit direkter Ansprache an, die Situation an Osteuropas Aussengrenze und konkret das Verbot der Menschenrechtsorganisation «Memorial» in Moskau an die Hand zu nehmen. Wie immer spricht er die Dinge und damit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Merkel, ihren Nachfolger Olaf Scholz, den ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble sowie andere amtierende und ehemalige Politgrössen offen an – singt ihnen das 1968 aus Anlass des Prager Frühlings geschriebene «Lied von den bleibenden Werten» als Ermahnung ins Gesicht und ist geradezu erschüttert, dass der Text noch heute aktuell ist.
Die Laudatio von Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk knüpft an Biermanns engagiertes Werk an. Kein Text über Biermann, sondern über dessen unzählige in der Shoah ermordeten Familienmitglieder – 20 Minuten, stoisch vorgetragen zwischen Anklage und Mahnung, die akribisch aufnotierte Liste des Schreckens. Ein Wahnsinnstext – mit gutem Grunde. Biermann wurde auch der angstlose, kämpfende, erkennende Biermann mit der Geschichte der verlorenen Familie, mit der Geschichte des Sohns, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde und dessen Mutter ihm in der Bombennacht von Hamburg das Leben rettete. Der Biermann, der seiner Mutter als Kind in Hamburg sagte: «Hier laufen die Mörder meines Vaters rum», nach Ostdeutschland flüchtete, mit Liedern gegen das Regime ansang, verboten und schliesslich ausgebürgert wurde. Dieser Biermann – der Drachentöter – legte am Mittwochabend ebenso wie in seinem ganzen Werk Zeugnis ab und machte damit klar, dass Freiheit mit Worten erkämpft, geschützt und verteidigt werden kann.
«Nur wer lachen kann, dem kann es genommen werden» sagte er mit Zuversicht und Schalk in die Augen der Politikelite blickend. Nach der «Bilanzballade im dreissigsten Jahr», «Hugenottenfriedhof», «Die lachenden Idioten», «Der preussische Ikarus», «Die Stasiballade» und «Die Ermutigung» wird auch den Letzten klar: keine Waffen, keine Tortur, keine Barbarei wird jemals gegen diese Waffe ankommen – gegen diese offenen, frontalen, aufmüpfigen Worte für Freiheit. Die Liedermacher, Dichter, Journalisten werden auf immer das letzte Wort nicht nur für die freie Gesellschaft haben.
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Info:
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 19. November 2021