Bildschirmfoto 2021 12 03 um 23.54.37Seit der Neueröffnung des Kunsthauses Zürich ist die Debatte um die Bührle-Sammlung eskaliert

Yves Kugelmann, Gisela Blau

Zürich (Weltexpresso) - Seit der Neueröffnung des Kunsthauses Zürich letzten Oktober fliegt der Limmatstadt die Sammlung des Nazi-Kollaborateurs Bührle um die Ohren – das zweite Interview mit Stadtpräsidentin Corine Mauch innert sechs Monaten.

tachles: Wir führen das zweite Gespräch innert sechs Monaten (vgl. tachles 26/21). Die Debatte rund um die Leihgabe der Sammlung von Emil G. Bührle hat in den letzten Monaten verschiedene Eskalationsstufen überschritten. Was haben Sie beziehungsweise die Stadt Zürich falsch gemacht?

Corine Mauch: Wir betonten schon vor mehr als einem Jahr bei der Präsentation des von Stadt und Kanton in Auftrag gegebenen Forschungsberichts der Universität Zürich, dass wir diese Debatte als wichtig und nötig erachten. Und wir haben mit dieser Forschungsarbeit die Grundlage für die Kontextualisierung geschaffen, die auch eine Grundlage für die heutige Debatte ist. Das war die Absicht, und die Entwicklung zeigt, dass die Debatte in Gang gekommen ist. Das ist positiv.


Diese Debatte kommt doch zu spät. Die hätte doch vor der Eröffnung beziehungsweise vor der Abstimmung 2012 geführt werden müssen.

Die Thematik Bührle war in der Tat schon im Abstimmungskampf 2012 ein grosses Thema. Dass er Waffenproduzent gewesen ist und Nazi-Deutschland beliefert hat, wusste man damals schon, und es wurde medial und an Podiumsdiskussionen intensiv diskutiert. Es war damals schon klar, dass es eine Leihgabe sein würde. Auch dass die Stadt eine Kontextualisierung verlangt, war klar und in der Abstimmungszeitung enthalten.


Nur wurde nicht transparent gemacht, dass Bührle ein Nazi-Kollaborateur, der Waffenproduzent des NS-Regimes war und Zürich die Sammlung trotzdem unter entsprechender Dokumentation ausstellen wollte. Die Stimmbevölkerung war darüber nicht wirklich informiert. In den Abstimmungsunterlagen wird das alles unter nötiger Provenienzforschung in einem Wort subsumiert.

Das ist falsch. Und die Debatte wurde auch in den Medien, im Stadtparlament und bei Podien damals über mehrere Jahre hinweg geführt. Was jetzt anders ist: Das Archiv wurde zusammen mit den Werken ins Kunsthaus überführt, und die Verantwortung für die Provenienzforschung ist von der Stiftung ans Kunsthaus übergegangen. Uns wurde bis heute aus Fachkreisen – die von diesem Metier etwas verstehen – wiederholt versichert, dass Lukas Gloor gute und den wissenschaftlichen Standards entsprechende Provenienzforschung für die Stiftung betrieben habe. Wir nehmen die heutigen kritischen Stimmen aber ernst und sie lösen bei vielen Menschen eine Verunsicherung aus. Deshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt, aus unabhängiger Warte die bisher durchgeführte Forschung zu evaluieren. Diese Forderungen unterstützen wir.


Wer ist nun dafür zuständig, wie geht es weiter?

Grundsätzlich ist die Zürcher Kunstgesellschaft zuständig, die Verantwortung für die Provenienzforschung ging auf sie über. Aber die Stadt will durchaus ihren Teil dazu beitragen; wir sind im intensiven Austausch mit zahlreichen relevanten Akteuren – zu verschiedenen Themen schon längere Zeit auch mit dem SIG, seit Ende Oktober spezifisch zur Bührle-Thematik. Oberstes Ziel der Evaluation muss sein, die Unabhängigkeit und höchste wissenschaftliche Qualität zu gewährleisten.


Weshalb kam von Ihrer Seite die Forderung nach dieser Abklärung nicht schon im Vorfeld der Eröffnung?

Lukas Gloor, der Direktor der Stiftung Sammlung Bührle, hat nach 20-jähriger Arbeit seine Forschung auf die Eröffnung hin abgeschlossen und sein Buch veröffentlicht. Wir wussten bei der Auftragserteilung an die Uni, dass er noch an der Arbeit war. Zu bemerken ist hier auch noch, dass das gesamte Stiftungsarchiv seit der Eröffnung allen offensteht. Gemäss Auskunft des Kunsthauses ist bis jetzt nur eine Anfrage ans Kunsthaus dazu eingegangen. Ich bin überzeugt, dass diese wichtige Debatte nicht so intensiv zustande gekommen wäre, wenn die Werke nicht in einem staatlich subventionierten Haus öffentlich zugänglich gemacht worden wären. Der Bericht der Universität leistet dazu ebenfalls einen wichtigen Beitrag. Sie findet jetzt statt, und das ist richtig.


Das Thema hat in den letzten Wochen auch hohe Wellen geschlagen. Dazu kommt die Aussage von Lukas Gloor, dass er unter diesen Umständen die Werke wieder zurücknehmen würde.

Lukas Gloor hat in einem Artikel des «Tages-Anzeigers» gesagt, dass er den Artikel mit der Aussage von einem Rückzug der Sammlung so nie autorisiert hätte. Er hat sie relativiert. Aber wir müssen sehen, dass diese ganze Debatte mit sehr vielen Emotionen geführt wird – verständlich, wenn man die Hintergründe und die zahlreichen Betroffenheitsthematiken vor dem Hintergrund fürchterlicher Geschehnisse kennt.


Es geht doch nicht um Emotionen, sondern um zurückgehaltene Informationen und ein mangelndes historisches Bewusstsein seitens der Stadt Zürich, das in der Weltpresse thematisiert wird.

Das Zugänglichmachen der Sammlung für die Öffentlichkeit in diesem Haus wurde während der Abstimmungszeit 2012 intensiv debattiert. Die Bevölkerung stimmte zu, und nun ist sie dort. Und nochmals: Wir sagten schon damals und immer, dass es ohne Kontextualisierung nicht geht. Deshalb haben Stadt und Kanton gemeinsam diese Studie bei der Universität Zürich in Auftrag gegeben, um eine wissenschaftliche Basis, wissenschaftlich aufgearbeitete Fakten zu haben, um diese Kontextualisierung leisten zu können. Und jetzt haben wir seitens Stadt und Kanton weitere Forderungen zur Forschung und Vermittlung aufgestellt.


Nun wird diese Studie aber nicht ernst genommen.

Das trifft so nicht zu. Die UEK-Mitglieder attestieren der Studie, dass sie inhaltlich fundiert und eine Grundlage für weitere Forschung sei. Geäusserte Vorwürfe an die Studie gehen wesentlich auch zurück auf einen arbeitsrechtlichen Konflikt zwischen Professor Matthieu Leimgruber und seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Erich Keller. Daraus entstand der Vorwurf, dass vom Steuerungsausschuss unzulässig eingegriffen worden sei. Daraufhin liess die Uni Zürich in Absprache mit den beiden Streitparteien eine externe Review durchführen, die die Qualität der Studie wahrte. Jakob Tanner wurde auf Vorschlag von Erich Keller, Esther Tisa Francini und Matthieu Leimgruber berufen. Aber auch dazu zirkulieren unwahre Behauptungen. So etwa hat Jakob Tanner nicht die Arbeit seines Nachfolgers begutachtet.


Wann konnten Sie persönlich den Dokumentationsraum im Kunsthaus erstmals sehen?

Ein paar Tage vor der Eröffnung war ich zwei Stunden dort. Die Arbeiten daran wurden ja auch erst kurz vorher abgeschlossen, wobei wir dazu eigentlich immer Druck gemacht hatten.


Waren Sie mit dem Resultat zufrieden?

Sehen Sie, die Texte wurden zuvor von zahlreichen externen Expertinnen und Experten geprüft – unter anderem ja auch von Ihnen, Frau Blau –, die ebenso zahlreiche Inputs lieferten, die zu einem grossen Teil aufgenommen wurden. Aber so, wie es jetzt präsentiert wird, bleibt es unter unseren Erwartungen. Dies im Hinblick darauf, die Dinge offensiver zu benennen wie auch hinsichtlich der zeitgemässen Darstellungsform im Raum. Wir meinen, dass es heutzutage besser zugängliche Darstellungsformen gäbe. Aber wir sind auch immer davon ausgegangen und haben dies gefordert, dass weder der Raum noch die übrige Dokumentation statisch seien. Sie werden sich weiterentwickeln und neue Forschungserkenntnisse integrieren müssen. Das habe ich auch anlässlich der Eröffnung gesagt.


Gibt es bei der Sammlung Bührle Parallelen zur Flick-Sammlung, gegen die von Zürcher Kulturschaffenden 2001 so vehement protestiert wurde, dass der Flick-Erbe seine Pläne für ein eigenes Museum in Zürich aufgab?

Ein Unterschied dazu ist sicher, dass Bührle eben sehr eng mit Zürich verbunden war. Gewisse Punkte wie etwa die Enge der Verflechtungen Emil Bührles mit der Kunstgesellschaft, wie er als Zugezogener aus Deutschland in diese Gesellschaft hineinkam, als reichster Schweizer dies eben auch genutzt hat, um über die Kunstgesellschaft in die Zürcher Kreise zu kommen, wissen wir so vertieft auch erst seit der Studie.


Im Gegensatz dazu war aber seine Verflechtung mit dem NS-Regime schon viel länger bekannt. Wo ist denn diesbezüglich die rote Linie bei «kontaminierten» Sammlungen, wenn es um die Zurverfügungstellung einer Plattform geht?

Sie fragen nach «roten Linien». Es gibt aber in diesem Zusammenhang keine einfachen Antworten. Damit müssen wir leben. Das heisst: Wir sind dazu in einer permanenten Auseinandersetzung, die auch schon vor 2012 geführt wurde. Die Stimmbevölkerung gab grünes Licht, man wusste – beispielsweise auch seit der Ausstellung 2010 im Kunsthaus –, was für eindrückliche Werke kommen würden und auf was man sich mit ihrem Hintergrund einlässt. Jetzt sind diese Werke im Kunsthaus, und jetzt hat die Debatte stark Schub erhalten. Das ist richtig so, und wir gehen weiter in dieser Debatte, wir bleiben nicht stehen. Und wir begrüssen jede vertiefende Forschung, die neue Erkenntnisse bringt – zur Person Bührle, zur Kontextualisierung dieser Sammlung. Und wir wollen nun die Provenienzforschung unabhängig evaluieren lassen. Das tun wir heute, aus heutiger Sicht.


Die Aufforderung dazu kam von ehemaligen Mitgliedern der nicht mehr existierenden unabhängigen Historikerkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK). Ist das wirklich eine Basis für das weitere Handeln?

Dass ihre Stimmen eine derartige Resonanz hatten, zeigt wohl schon das Gewicht, das diese Kommission noch heute hat, plus eben auch den Unmut dieser Mitglieder darüber, dass man ihnen damals sagte, dass es die Archivbestände nicht mehr gebe. Diesen Unmut kann ich gut verstehen.


Wobei man ja gleich zu Beginn, noch vor der Abstimmung, zum Ansinnen der Stiftung und der Stifterfamilie hätte Nein sagen können.

Das ist genau die Debatte, die wir führen: Was ist ein angemessener Umgang? Eine Seite plädiert klar dafür, einfach Nein zu sagen. Das ist eine Perspektive, mit der man meiner Meinung nach vielleicht zwar eine reine Weste behalten kann, aber die Verantwortung ablehnt. So würde die wichtige Debatte wohl nicht stattfinden. Und ich finde, die Verantwortung zu übernehmen und die Debatte zu führen sei das Richtige.


Die Frage ist indessen, wie man Ja sagt. Also zu welchen Bedingungen, mit welcher vorgängigen Due Diligence etc.

Nochmals: Es gibt in einer so komplexen und belasteten Angelegenheit keine einfachen Antworten. Es geht hier um eine hoch komplexe Geschichte, etwas, das in Bewegung ist. Antworten von heute müssen wir in fünf Jahren vielleicht korrigieren. Der Diskurs hat sich weiterentwickelt, wir wissen heute mehr, und das ist, was wohl das sehr Anspruchsvolle dabei ist. Was wir heute sagen, sagen wir aus heutiger Sicht, über die wir heute Transparenz schaffen müssen. Aber wir müssen damit leben, dass wir vielleicht in fünf Jahren sagen müssen: Nein, wir sehen es jetzt anders. Die Debatte darf nicht enden.
Auf www.tachles.ch findet sich im Dossier «Bührle-Debatte» die tachles-Berichterstattung mit rund 50 Artikeln zur Neueröffnung Kunsthaus Zürich.

Foto:
©tachles


Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. Dezember 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.