Ein Rundgang über die Documenta fifteen
Corinne Elsesser
Kassel (Weltexpresso) - Nach all dem Medienhype um das Großbild "People’s Justice" des Künstlerkollektivs Taring Padi aus dem Jahr 1978, das anlässlich der Documenta fifteen auf dem Friedrichsplatz in Kassel aufgehängt, bald verhüllt und schließlich abgehängt worden ist, scheint sich die diesjährige Kunstausstellung zumindest in der Berichterstattung auf wenige Streitpunkte reduziert zu haben. Im Zuge dieser Querelen musste inzwischen die Generaldirektorin Dr. Sabine Schormann nach 28 Tagen Ausstellungsdauer ihren Hut nehmen.
Was in Kassel sonst noch zu sehen ist, scheint zur Nebensache geworden zu sein. Es lohnt sich deshalb, das von Dr. Schormann mutig in die Wege geleitete Konzept, Positionen aus den Entwicklungsländern in Kassel zu Wort kommen zu lassen, eingehender zu betrachten.
Am altehrwürdigen Fridericianum, das 1779 als Ausstellungsgebäude für die landgräflichen Sammlungen eröffnet wurde, sind die sechs Säulen des Portikus schwarz gestrichen und mit weißen Graffitis besprüht. Das lässt aufmerken. Kaum jedoch fällt ein neben dem Treppenaufgang platziertes Schild ins Auge, das die Aufschrift "this question (where is the art?) is really happening..." trägt und dem aufmerksamen Besucher mit seiner kurzen Formel nicht nur die gesamte Intention der Ausstellung, sondern gleichsam deren Programm an die Hand gibt. Der Begriff künstlerischen Schaffens, wie man ihn in Ländern südlich des Äquators versteht, unterscheidet sich von unserem grundlegend. Lässt man sich auf diese Problemstellung ein, so erschließt sich auf einem Rundgang über das weitläufige Ausstellungsgelände die Frage, wo denn die Kunst sei, als ein Prozess des Nachdenkens über Kunst.
Beim Eintreten ins Fridericianum geht es massiv weiter mit Graffitis und Grafiken an den Wänden, mit Schautafeln, verschiedenen Sitzgruppen und Sitzecken, die im Erdgeschoss herumstehen, an welchen vor kurzem noch Gruppen intensiv diskutiert und gearbeitet zu haben scheinen. Das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, das die Documenta fifteen kuratierte, hat eine ganze Reihe weiterer Kollektive aus aller Welt eingeladen, ihren Beitrag zur Ausstellung zu leisten. Das effektive Netzwerk des Künstlerkollektivs gewinnt in Kassel Gestalt. Dabei übernimmt das Fridericianum die Funktion eines lumbung, eines traditionellen indonesischen Reisspeichers, der den Dorfmittelpunkt bildet, in dem Reis gelagert und verteilt wird, in dem sich die Gemeinschaft trifft und austauscht. Die eingeladenen Kollektive verlegten ihre Arbeit für 100 Tage nach Kassel und im Rahmen ihres Austausches können auch die Besucher an workshops und Seminaren des "Gudskul-Kollektivs" teilnehmen, die Kinder bei "Rurukids" kreativen Beschäftigungsmöglichkeiten nachgehen lassen, die Arbeiten von Behinderten am "Project Art Works" aus Hastings (GB) bestaunen, die Ambitionen der "Off-Biennale-Budapest" für ein Roma-Kunstmuseum betrachten wie auch die "The Black Archives", die "Asia Art Archive" oder die "Archive des luttes des Femmes en Algérie", die ihre Bestände zeigen.
Die Gestaltung der 1992 als eine Brücke zwischen Staatstheater und Karlsaue von den Architekten Jourdan & Müller erbaute gläserne documenta-Halle, die nun ganz mit dem in Slums der dritten Welt üblichen Baumaterial Wellblech verkleidet ist, wirkt erneut als ein Affront. Man kann sich jedoch auf die Projekte der ausstellenden Künstlerkollektive einlassen, die die Halle mit Installationen, livestreams, einem Schattentheater und der lumbung-Presse, auf der die Kollektive ihre Publikationen drucken und binden können, zu einem Ort der Arbeit umgestaltet haben.
Videovorführungen in Zelten geben auf der Karlsaue Einblicke in Forschungsprojekte in ariden Regionen der Inneren Mongolei (Cao Minghao & Chen Jianjun) oder in Kenia, wie die von "The Nest Collective" aus Müllpacken aufgebaute begehbare Installation, die den Transport von Elektroschrott und anderen Abfällen nach Afrika und damit verursachte Umweltschäden zur Sprache bringt. Im 2015 eröffneten, wie eine begehbare Skulptur wirkende Museum Grimmwelt, finden sich feine Zeichnungen der in Jerusalem lebenden Künstlerin Jumana Emil Abboud zum Thema Wasser und inmitten von Skulpturen aus Plastikabfall unterhält der indonesische Geschichtenerzähler Agus Nur Amal PMTOH in einem weiteren Raum seine Zuhörer. Das Museum für Sepulkralkultur, das sich dem Sterben, der Trauerkultur und dem Totengedenken widmet, zeigt eine etagenübergreifende Installation des in Barcelona lebenden mexikanischen Künstlers Erick Beltrán, die sich mit Fragen der Macht beschäftigt. Die in Berlin lebende kurdische Künstlerin Pinar Ögrenci hat im Hessischen Landesmuseum einen zarten Vorhang aus Papiertüchlein aufgebaut, hinter dem sie eine poetisch anmutende Dokumentation über ihre Heimat Müküs zeigt. Ihr ethnographischer Blick ist stets unterfüttert mit Krieg und Grausamkeiten in dieser umkämpften Region. Ein paar Straßen weiter führt im 1951 von Paul Bode erbauten und noch weitgehend authentisch belassenen Hotel Hessenland eine Installation von "Madeyoulook" aus Johannesburg die Besucher in ferne Klangwelten, die immer wieder von Schreien durchbrochen werden.
Etwas zurückgesetzt und etwas abseits findet sich doch noch ein weiteres Großbild des Kollektivs Taring Padi an der Fassade eines Kaufhauses. Man kann hier und allgemein in Kassel beobachten, wie Kunst aus sozialem Engagement entsteht, wie sie politischen Intentionen folgt, wie sie zensiert wird und verschwindet und darüber nachdenken, was Kunst sein kann.
Foto:
©documenta-fifteen.de
Info:
Documenta fifteen, Kassel, bis 25. September.
Publikationen:
Handbuch, Hatje Crantz Verlag, 2022, ca. 320 S., ca. 200 Abb., €25.–
Gehen, finden, teilen. Ein Familienhandbuch, Hatje Crantz Verlag, 2022, 96 S., ca. 80 Abb., €15.-
Majalah lumbung. Ein Magazin zum lumbung-Gedanken, Hatje Crantz Verlag, 2022, ca. 320 S., ca. 200 Abb., €28.-
lumbung erzählen. Sieben Kurzgeschichten, Hatje Crantz Verlag, 2022, 208 S., €18.-