
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Während abends nach der Papstwahl im Vatikan weißer Qualm aufsteigt, tummeln sich vor der Berliner Volksbühne auf Rollschuhen fahrende oder Selfies machende Nonnen. Sie sind die Chorsängerinnen und Tänzerinnen des Stücks „Sancta“ von Florentina Holzinger, das zum Berliner Theatertreffen 2025 eingeladen wurde und gleich beginnen wird.
Als der Vorhang aufgeht, zeigen sich etliche Zuschauende im Saal noch schnell den römischen Rauch auf ihren Smartphones. Auf der jetzt offenen Bühne liebt sich – explizit wie es neuerdings heißt – leidenschaftlich ein nacktes Frauenpaar. Ein Riesenroboter schwenkt eine große Kirchenkerze. Zwei Ordensschwestern singen „Mir ist als klängen bodenlose Tiefen.“ Wie Krebse kriechen einige entblößte Akteurinnen auf der Bühne herum, kraxeln schließlich die Bühnenrückwand hoch, die ein Bild aus der Sixtinischen Kapelle darstellt. Aber das wird erst später im Stück deutlich, wenn die Wand zerschlagen wird, um „die Kirche zu erneuern.“
Das Orchester im Bühnengraben spielt die Melodien aus Paul Hindemiths Einakter-Oper „Sancta Susanna“, und das Libretto wird vom Nonnenchor oder einigen Solistinnen gesungen. Darin geht es um die junge Ordensfrau Susanna, die in Verzückung gerät, erotische Begierde verspürt und sich gegen die strenge klösterliche Ordnung auflehnte. Das 1921 uraufgeführte Stück war gerade aufgrund der Vermischung religiöser und sexueller Motive damals extrem skandalös – und ist die Vorlage für Holzingers aktuelles Gesamtkunstwerk. Auch 100 Jahre später demonstrierten in Stuttgart und anderswo fundamentalreligiöse Fanatiker gegen die angeblich blasphemischen und frevelhaften Provokationen der Choreografin.
Ein riesiges rotleuchtendes Kreuz kracht auf die Bühne. Darauf kopuliert jetzt das nackte Paar. Susanna reißt sich die Kleider vom Leib. „Ich darf Euch nun die Schwestern meines Ordens vorstellen“, verkündet sie. Bevor sie sich völlig entkleiden, agieren etliche Tänzerinnen mit Reststücken ihrer Nonnenroben. Die Hindemithklänge gehen in Rockmusik über. Ohrenbetäubendes Geschrei. Irrsinnige E-Gitarrenriffs einer Rollschuhfahrerin. Andere rasen mit ihren Rollerblades in der Half Pipe auf der Bühne. Eine riesige Glocke senkt sich herab, eine Tänzerin wird zum Klöppel und läutet die Ektase ein.
Es sind vor allem diese ungeheuren szenischen Gemälde, in denen Holzinger assoziativ theatralische, musikalische, akrobatische und choreografische Elemente collagiert. Diese lebenden Bilder ziehen das Publikum tief in das Stück hinein. Sie berühren, bewegen, überwältigen – jedoch gefällt das nicht jedem. Dabei schafft Holzinger ständig Distanz durch Übertreibungen, skurrile Situationen, absonderliche Handlungen. Sogar die unbekleideten Leiber der Protagonistinnen verfremden und ermöglichen Abstand zur Überwältigung. Diese Entblößungen stehen ebenfalls für das Sich-Nacktmachen, die Offenheit, die Verletzlichkeit der Akteurinnen, die von ihren Kindheitserlebnissen und Fantasien erzählen. Aber auch die werden wiederum ironisch gebrochen: „Ich möchte gerne eine Heilige sein, weil ich mit 19 Jahren abgetrieben habe.“
Und ihre Hüllenlosigkeit ist, ganz nebenbei, eine Ode an die weibliche Vielfalt – dicke, dünne, kleine, große, alte, junge Frauen bilden eine entblößte verschworene Gemeinschaft. Darin spielt auch die kleinwüchsige Frau mit, die mehrfach als Papst agiert. Am Ende werden sogar wir, das staunende Publikum, wenn wir denn wollen, in diese Gesellschaft integriert: „Don’t dream. Be it!“ Diese vom Kultfilm ‚Rocky Horror Picture Show‘ übernommene Botschaft wird von den euphorisierten Leuten im Saal begeistert mitgesungen.
Die Choreografin schafft eine unglaubliche Gratwanderung zwischen Kunst und Kitsch, Pathos und Anmut, Religiosität und Atheismus. Dabei krempelt sie den männlich-chauvinistischen Katholizismus gleichsam auf links in eine feminin-erotische Spiritualität ohne Gott. Dem Verfasser dieser Zeilen kommt der Soziologe Alfred Lorenzer (1922–2002) in den Sinn, der sich in den frühen 1960er-Jahren kritisch mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auseinandersetzte. Gerade als Marxist beklagte er damals die Abschaffung der lateinischen Messe und die Modernisierung der Liturgie, die er nicht als Fortschritt, sondern als Verlust deutete.
Er sah in der traditionellen Messe, mit ihrem sinnenreichen, symbolisch dichten Ritual (Rauch, Gesang, Gesten, Latein), eine tiefere psychische und gesellschaftliche Funktion. Die sei nun durch die „vernünftige“ Vereinfachung vernichtet. Hier wäre Kulturzerstörung betrieben worden, die eine Verarmung der seelischen Erfahrungsräume bedeute. Ohne hier tiefer auf Lorenzers Schrift „Das Konzil der Buchhalter“ einzugehen, könnte man die These wagen:
Wo die Kirche (nach Lorenzer) ihre sinnhafte Tiefe verloren hat, entsteht sie in Holzingers „Sancta“ als atheistischer Kult, als neue Messe der Körper. Nicht spöttisch, nicht parodistisch, sondern feminin-theologisch, ernsthaft und lebensbejahend. Das ist weit mehr als Provokation oder Parodie – es ist die Rückeroberung des Sakralen! „Sancta“ ist eine der theatralischen Antworten auf die Krise der Liturgie, wie Lorenzer sie einst beschrieb: eine feministische Re-Sakralisierung des Leibes – jenseits der Kirche.
Dadurch befindet sich Holzinger in guter Gesellschaft mit dem viel zu früh gestorbenen Christoph Schlingensief (1960 – 2010). Der hatte immer mit religiösen Symbolen gearbeitet und wollte durch Körper, Wunden und Gemeinschaft das Sakrale zurückholen. Der Schmerz war bei ihm kein Bruch mit der Hoffnung, sondern ihre Voraussetzung. Schlingensief und Holzinger benutzen das Theater nicht als Ort der Präsentation, sondern als ritualisierten Raum: mit echten Körpern, echter Nähe, echten Gefühlen. Sie schaffen eine Form postmoderner Liturgie, die ohne Gott auskommt, aber nicht ohne Transzendenz. Schlingensief wollte immer, dass Theater verbindet – Kranke, Flüchtlinge, Kunstschaffende, Zuschauende. Auch „Sancta“ ist keine elitäre oder provozierende Performance, sondern ein mit dem Publikum, also mit uns geteilter Erfahrungsraum.
Fotos:
Nonnen vor der Volksbühne © Hanswerner Kruse
Szenenfotos © nicole-marianna-wytyczak