Circa En Masse Photo by David Kelly 3„En Masse“ im Staatstheater Darmstadt

Hanswerner Kruse

Darmstadt (Weltexpresso) – In der diesjährigen Gastspielreihe zum Ende der Spielzeit verwandelte sich das Staatstheater Darmstadt zur Bühne für zeitgenössische Zirkuskunst. Zwei australische Compagnien und einige regionale Initiativen wollten den hohen Anspruch realisieren: „Die Grenzen zwischen Tanz, Theater, Musik und Akrobatik neu (!) definieren...




Circa En Masse Photo by David Kelly DSC00303Wir besuchten die Choreografien „En Masse“ des Ensembles „Circa“, das mit seinen Mitteln Schuberts „Winterreise“ und Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ präsentierte. Zwei Werke, an denen sich seit Jahrzehnten die Tanzszene misst.

Neun Gestalten liegen vor dem geschlossenen Bühnenvorhang. Schuberts Wanderer aus der „Winterreise“ stimmt ein unverständliches Lied an - aber nicht das gewohnte „Fremd bin ich eingezogen...“ Langsam kriechen und schlängeln sich die Liegenden hinter den Vorhang, nur eine Tänzerin umgarnt, bedrängt, umschlingt den Tenor.



Knarzen. Geknatter. Dröhnen – eine Kakophonie elektronischer Klänge. Der Vorhang hebt sich, die Figuren sind in ein durchsichtiges Plastikzelt eingeschlossen. Wieder erklingt ein akustisch nicht zu verstehendes Lied aus Schuberts „Winterreise“. Im Zelt winden sich Menschen ineinander und übereinander. Rotten sich zusammen. Stemmen einander waghalsig hoch. Recken sich nach oben. Paare umklammern sich. Vielleicht ist es die Gesellschaft, von der sich der Wanderer abkehrt – oder seine eigenen Erinnerungen?

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Nach einem weiteren elektronischen Einschub ertönen erneut Schubert-Klänge. Auf der nun leeren Bühne läuft ein Einzelner über zusammen gerottete Körper. Dann ringen viele plötzlich athletisch miteinander. Drei Figuren stehen halsbrecherisch aufeinander. Mühsam halten sie das Gleichgewicht. Eine tappt auf Spitzen mit grotesken Bewegungen durchs Bild. Dann hören wir den „Leiermann“, das Schlusslied. Doch die Musik wechselt weiter zwischen den Schubertklängen und elektronischen Tönen. Zum eigentlichen Anfangslied „Fremd bin ich eingezogen...“  kämpfen Paare wild und ungezähmt miteinander. Doch das Ende lässt immer noch auf sich warten. 


Mal erleben wir in den 12 Szenen Akrobatik pur, dann wieder bewegende Bilder einsamer Menschen. Annäherungen von Paaren. Ausgrenzungen oder Integration durch die Gemeinschaft. Die Compagnie zeigt eine zerrupfte Version der „Winterreise“, die der traditionellen musikalischen Version von Schubert folgt – eine fragmentarische Collage von Szenen und ständigem Wechsel klassischer und elektronischer Musik. Sie oszilliert zwischen akrobatisch verstärkten Emotionen, purer Athletik und gelegentlichen Turnübungen mit Purzelbäumen. Doch es gibt viele berührende Momente, in denen es den Zirkusleuten gelingt, das perfekt Akrobatische zu poetisieren.

Circa En Masse Photo by David Kelly 2Ähnlich ist es nach der Pause mit dem „Sacre“, der intensiv und ungebändigt auf lediglich zwei Flügeln in Strawinskys reduzierter, eigenen Version von 1913 live gespielt wird. Die Bühne ist mit zwei Instrumenten und streng verteilten Tanzenden klar strukturiert, eine Tänzerin schiebt sich im Lichtkegel nach vorne. Sie ist vielleicht das erste ausgewählte Frühlingsopfer. Ständig wechseln nun die Bilder: Gestalten im Kreis und ausgewählte mögliche Opfer. Paare und Dreiergruppen klammern sich aneinander, bilden kühne Figuren. Einzelne werden in die Gruppe geworfen. Manche stemmen sich nach oben, als wollten sie entkommen. Die oft ekstatischen Szenen sind fließend miteinander verbunden, glaubwürdig und sehr tänzerisch. Das weißgekleidete Opfer zum Schluss tanzt, krümmt und quält sich dramatisch.

Besonders berührend sind in beiden Werken die einsamen Figuren, die kühn zu Boden stürzen, sich in sich selbst verwinden und aus ihren eigenen Verknotungen lösen. Oder die Paare, die sich stürmisch herumschleudern, hochwerfen, abstoßen – so wird ihre wechselseitige Abhängigkeit unmittelbar körperlich erfahrbar. Eine Akteurin die mehrere Männer fortschleppt – ein Bild, das zugleich von Macht und Anstrengung erzählt. Wenn drei Menschen aufeinander balancieren, ist das Ringen um Gleichgewicht spürbar. Manchmal lässt sich jemand vertrauensvoll aus großer Höhe fallen und wird vom Ensemble aufgefangen. Das sind Momente, die für Tänzerinnen und Tänzer im zeitgenössischen Tanz oder modernen Ballett (noch) nicht realisierbar sind. 

Circa En Masse Photo by David Kelly 1T0A5802HR1Dabei zeigen die Zirkusleute keine Spur von Pantomime, tun nicht „als ob“ – sondern schaffen wirklich eine Gratwanderung zwischen Tanz, Akrobatik und performativen Aktionen. Die tänzerischen Möglichkeiten werden beträchtlich erweitert, indem der Ausdruck durch radikale Bewegungen verstärkt wird. Aber die Erneuerung von Tanz, Theater, Musik und Akrobatik wird hier nicht „neu“ geleistet, sondern ist ein Prozess, der schon seit langer Zeit andauert. Die hohe Qualität anderer Interpretationen erreicht das Ensemble bei weitem nicht. Und die aktuelle, vielfach prämierte „Winterreise“ von Christian Spuck mit dem Berliner Staatsballett, ist dieser Zirkusarbeit an Emotionalität, Vielfalt und Komplexität weit überlegen.

Aber sehenswert war dieser zeitgenössische Zirkus allemal!

Fotos
© David Kelly