Der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész ist gestorben
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Imre Kertész, Literaturnobelpreisträger von 2002, ist 86jährig am 31. März 2016 in Budapest gestorben. Er litt bereits seit einigen Jahren an Parkinson. Kertész wurde 1929 in Budapest geboren. 1944 deportierten ihn die Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, später nach Buchenwald. Dort wurde er 1945 befreit.
Danach kehrte er nach Budapest zurück. Seine Mutter überlebte die Verfolgung in einem Versteck, sein Vater hingegen wurde ermordet.
Kertész wurde erst spät einem größeren Publikum bekannt. Insbesondere in Deutschland erfuhr er eine besondere Anerkennung. Ausgelöst wurde diese Aufmerksamkeit durch seinen 1975 erschienenen "Roman eines Schicksallosen". Dieses Buch sei, so urteilte das Nobelpreis-Komitee, die ultimative Wahrheit darüber, wie tief menschliche Wesen sinken können. Kertész selbst meinte später, dass die deutsche Übersetzung ausschlaggebend für den Nobelpreis gewesen sei: "Man kann sich ja denken, die schwedische Akademie liest nicht ungarisch, sie liest deutsch."
Kertész beschreibt darin den Leidensweg eines fiktiven 15-jährigen Jungen, der - ähnlich wie er selbst - zunächst nach Auschwitz-Birkenau, dann nach Buchenwald und Zeitz deportiert wird. György Köves, so heißt dieser Junge, passt sich dem Lagerleben an, es scheint gar, als empfinde er es als Abenteuer. Er bewundert den Arzt an der Rampe, der die einen ins Arbeitslager, die anderen in die Gaskammer schickt. Die hohe Funktionalität des Systems KZ nötigt ihm Respekt ab. Er sieht rationale Prozesse, die extrem exakt verlaufen und zumeist reibungslos ineinander greifen. Die Normalität dieses Schreckens hinterfragt er nicht. Sie ist da, also lebt er mit ihr, solange er am Leben gelassen wird. Als György Köves nach seiner Befreiung nach Budapest zurückkehrt, ist er mit dem Unverständnis der Menschen konfrontiert. Er muss sich für das Überleben rechtfertigen.
Und zwischen den Zeilen wird deutlich: Auschwitz ist keine Verirrung, sondern die logische Konsequenz aus einer Irreleitung der gesamten europäische Zivilisation, der es nicht unbedingt an Verstand, aber an Menschlichkeit fehlte.
Auch Imre Kertész wurde wie viele Holocaust-Überlebende von Schuldgefühlen geplagt. Wie konnte er angesichts der Millionen Opfer sein eigenes Entrinnen vor der Nachwelt rechtfertigen? Das Schreiben verhalf ihm zu Auswegen aus solchen düsteren Fragen, die sich nie beantworten lassen. Mit diesem Schreiben thematisierte er immer wieder und mit unterschiedlichen Aspekten das bloße Funktionieren, das Leben, das einer vermeintlich höherer Fügung unterworfen ist.
Wer wegen solcher Irrationalität der Vernichtung preisgegeben ist, in sie hinein geworfen wird, besitzt weniger als ein Schicksal. Verfügt noch nicht einmal über die Möglichkeit, zu seinem Scheitern etwas beizutragen, also tragisch versagen zu können. Er ist schicksallos. Kertész dazu:
„Die äußerste Determiniertheit aber, die Stigmatisierung, die unser Leben in eine durch den Totalitarismus gegebene Situation, in eine Widersinnigkeit presst, vereitelt diese Möglichkeit: Wenn wir also als Wirklichkeit die uns auferlegte Determiniertheit erleben statt einer aus unserer eigenen – relativen – Freiheit folgenden Notwendigkeit, so bezeichne ich das als Schicksalslosigkeit.“
In seinen Büchern „Fiasko“ und „Kaddisch fürein nicht geborenes Kind“ setzt Kertész dieses Thema fort. Den vierten Teil der„Tetralogie der Schicksallosigkeit“ bildet das Werk „Liquidation”. Darin geht es um ein ominöses Theaterstück eines in Auschwitz geborenen Autors, das dieser vor seinem Selbstmord geschrieben hat und das er seinem Freund, einem Verlagslektor, hinterlässt. Das Stück löst unterschiedliche Reaktionen aus. Vom obsessiven Gedenken bis zur völligen Infragestellung der eigenen Existenz. Es basiert auf einem Roman, der nicht mehr verfügbar ist, weil die geschiedene Frau des Autors ihn verbrannt hat. Die Schicksalslosigkeit erreicht eine neue Dimension.
1992 veröffentlichte Kertész das weithin autobiografische „Galeerentagebuch“. Auch daringeht Kertész Fragen der Determiniertheit und Freiheit des Individuums sowie der verlorenen Möglichkeit seiner Entfaltung in einer totalitären Welt nach.
Warum er nach den Erfahrungen in Auschwitz und Buchenwald, die er tilgen wollte, überhaupt zu dieser Thematik zurückfand, beschrieb er später so:
"Was mich zu diesem Erlebnis zurückgebracht hat, ist eine spätere, viel spätere Erfahrung, und zwar die Erfahrungen der so genannten 50er-Jahre, der Stalin-Zeit, und dann der Aufstand in Budapest, die Niederschlagung des Aufstandes und was nachher kam. Was nachher kam, also die Anpassung eines Volkes an eine gegebene Situation, die ich schon ganz bewusst erlebt habe. Das hat mich zurückgebracht zu meiner ursprünglichen Erfahrung von einer Diktatur, und da war der ganze Prozess, der ganze Mechanismus für mich ganz klar: Das brachte mich zurück zu meinem Ur-Erlebnis, zum Auschwitz-Erlebnis."
Kertész lebte mehr als zehn Jahre in seiner Wahlheimat Berlin, die er besonders wegen ihrer Weltoffenheit schätzte. 2012 kehrte er nach Budapest zurück. Mit Abscheu reagierte er auf den dort wieder salonfähig gewordenen Antisemitismus. Doch das Schreiben fiel ihm nicht nur wegen der Parkinson-Erkrankung zusehends schwerer. Der mit vielen Preisen ausgezeichnete Schriftsteller sehnte sich zurück in die Jahre der Abgeschiedenheit während des verhassten Stalinismus. In seinem Tagebuch "Letzte Einkehr" ist davon zu lesen.
Info:
Lieferbar sind von Imre Kertész zurzeit diese Veröffentlichungen:
Briefe an Eva Haldimann
Detektivgeschichte
Die englische Flagge
Dossier
Eine Gedankenlänge Stille
Eine Zurückweisung
Fiasko
Galeerentagebuch
Heureka
Ich - ein anderer
Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind
Letzte Einkehr
Liquidation
Roman eines Schicksallosen