Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Die Bühne ist mit zahllosen, im Stil der 1960er-Jahre gekleideten Schaufensterpuppen und einem Schlagzeug vollgestopft. Drummer, Bassist und Gitarrist legen nach einiger Zeit mit infernalischer Rockmusik los. Bald gesellen sich drei Schauspieler und zwei Schauspielerinnen zu ihnen. Sie beginnen als große Kinder mit einer ausschweifenden Erzählung, wie ihr gelber NSU „von den Bullen verfolgt“ wurde und sie nur mit großer Mühe entkommen konnten. So fängt auch Witzels Roman an.
Die genialen Schauspieler deklamieren seinen extrem eingedampften Text, spielen Szenen kurz an, wechseln blitzschnell die Rollen, sprechen mit Puppen, frieren selber ein. Parallel laufen auf einem Großbildschirm Nahaufnahmen ihrer Gesichter im Wechsel mit Doku-Clips aus den wilden Zeiten: Vietnam-Demonstrationen. Die Kommune 1 nackt an der Wand. Zwei Black Panther bei der Olympiade. Immer wieder dröhnt das Rock-Trio los, das sich passend „Die Nerven“ nennt. „...inmitten der Leere / hinter Raststätten versteckt / deine Stimme die wie Teer die Straßen bedeckt / ich gehe barfuß durch die Scherben ohne mich zu verletzen...“, schreit der Sänger ins Publikum. Die Mimen tanzen, springen sich an, versuchen akrobatische Figuren, zelebrieren Slapsticks. Ein Schauspieler rappt das Trinklied Willy Schneiders: „Schütt die Sorgen in ein Gläschen Wein“!“
Regisseur Armin Petras inszeniert eine schrille, bilderreiche Theatercollage, ebenso wenig stringent wie Witzels Buch. Mit seinem Team versucht er, das Lebensgefühl der damaligen Zeit über die Rampe zu bringen: Verklemmte Spießer in der „formierten Gesellschaft“ (Ludwig Erhard) der Bundesrepublik, gegen die junge Menschen aufbegehren. „Junge, was glaubst Du denn, wie lange wir das noch durchhalten?“, schreit der genervte Vater den jugendlichen Rebellen an und fordert: „Ab in die Klapse, das ist für uns alle das Beste!“ Aber es bleibt offen, zumindest auf der Bühne, ob der Junge überhaupt psychisch erkrankt ist und woran er leidet. Auf sozialpädagogische Exegesen legt Petras freundlicherweise keinen Wert.
„Die Frau von der Caritas“ - später mimt sie eine attraktive DDR-Volkspolizistin - schaut immer mal nach den chaotischen familiären Verhältnissen. Sie betreut auch „das Baby“, den kleinen Bruder des aufsässigen Jugendlichen. Der findet sie ziemlich sexy und würde gerne mal ihre Brüste sehen. Manchmal brüllt er seine Fantasien heraus, wie er das Baby quälen möchte. Als „etwas Gelbes“ den Kopf der Mutter und den Fußboden besudelt, zieht „die Frau von der Caritas“ ihren Slip aus und wischt „das Gelbe“ damit weg. Leider versacken solch fantastische Grotesken immer wieder im Klamauk:
Der Teenager windet sich als beichtendes Würstchen am Beichtstuhl, der durch ein Küchensieb symbolisiert wird. Dahinter frisst der Pfarrer Würstchen und lauscht dem Sünder: „Ich habe einen Teebeutel nicht ordentlich für den Müll getrennt...“ Plötzlich springt der Geistliche auf, hat nun das Baby im Arm. Während er weitere Würstchen in sich hineinstopft, lamentiert er - Wurststückchen auf den Säugling spuckend - über Sünde und Vergebung. Derlei ulkige Regieeinfälle gibt es viele im RAF-Karneval, das Publikum liegt vor Lachen unter den Stühlen.
Ganz so billig ist die Aufführung dann doch nicht, wie man zunächst meint und sich nach Johann Kresniks choreografischem Theater „Ulrike Meinhof“ sehnt (deren Texte das Programmheft füllen). Tage später werden überraschend viele Szenen doch noch im Kopf lebendig. Das liegt vor allem an der furiosen Band und den großartigen Schauspielern, ihretwegen kann man sich diese Burleske ansehen. Aber ein „Zauberwerk“, wie die Süddeutsche Zeitung, das Buch nannte, ist das Stück nicht geworden.
Foto © Thomas Aurin
Info:
Weitere Aufführungen in der Berliner Schaubühne am 8. und 29. Mai 2016