Neue Tanzstücke in Kassel: „After Lethe“ und "Ereignishorizont"

 Hanswerner Kruse

Kassel (Weltexpresso) - „Erzengel“ ist der Obertitel zweier Tanzstücke, die soeben in Kassels Oper uraufgeführt wurden. Wie so manches am spannenden Premierenabend erschließt sich auch der Titel nicht ohne weiteres. Am ehesten lässt sich „Erzengel“ noch durch die Endzeitstimmung in den apokalyptischen Tanzbildern interpretieren. Eigentlich ist das Kasseler Publikum ja mit modernem Ballett vertraut und an Grenz-Tänze des Ensembles gewöhnt. Dennoch kamen allerlei Abonnenten des Opernhauses nach der Pause nicht zurück, die gebliebenen Tanzfreunde aber feierten frenetisch ihre 16-köpfige Compagnie.

 

Die Bühne ist als düstere Bahnhofskneipe „Lethe“ hergerichtet. Zunächst rührt sich nur eine aufgeregte Tänzerin in einer Zinkwanne, auf die ein Lichtstrahl fällt. Hysterisch springt sie raus, schnellt gegen die Theke, verstrickt sich mit einem Paar in einen wüsten Clinch. Weitere Tänzerinnen kriechen aus ihren auf der Bühne verstreuten Schlafsäcken, erwachen mit bizarren Bewegungen. Vor, auf und hinter der Theke bewegt sich das Ensemble akrobatisch oder mit sämtlichen Varianten des zeitgenössischen Tanzes. Zwischendurch hysterisches Geschrei, Kontakte, Stille, eingefrorene Gruppenbilder, Flucht vor plötzlicher Bedrohung. Immerzu einsame Menschen, Wartende an der Bar. Dann ein riesiger Aschehaufen, aus dem sich ein Tänzer befreit. Zum Schluss ein Korridor aus Licht, in dem behutsam alle verschwinden.

 

 

After Lethe“ ist ein atemloses Stück, das die Gast-Choreografin Maxine Doyle zu eigenartigen Klängen - dem „Sounddesign“ - von Stephen Dobbie choreografiert. Die Bilder offenbaren aufblitzende Erinnerungen, berstende Gefühle, archaische Furcht. Schnell wechselnde, zersplitternde Montagen lösen heftige Gefühle bei den Zuschauern aus, wenn sie sich denn auf die wenig gefälligen Bilderfluten einlassen und ihre Wahrnehmung hinterfragen mögen.

 

 

Die Erklärung der Choreografin ist einfach: Lethe ist einer der Flüsse der griechisch-mythologischen Unterwelt. Seelen der Toten trinken aus diesem „Fluss der Vergessenheit“, um ihre irdischen Erfahrungen auszulöschen. Aber was passiert, wenn der Fluss austrocknet, wenn wir nicht vergessen können, fragte Doyle die Truppe - und lässt sie mit den Dämonen tanzen.

 

 

Weniger bildgewaltig und streckenweise sogar komisch ist der „Ereignishorizont“ des Kasseler Choreografen Johannes Wieland. Vor einem riesigen Hirsch tanzt ein Paar intim miteinander, eine Frau echauffiert sich über den verlorenen Lippenstift, eine andere steht über einem liegenden Mann und fächelt ihm Luft mit ihrem Rock zu, Tänzerinnen flirten ins Publikum. Oft kämpfen Paare pantomimisch miteinander, ringen, boxen oder beschießen sich mit imaginären Pistolen. Dann tobt die ganze Gruppe voller Lust im Freistiltanz über die Bühne. Es sind Wimmelbilder, in denen das Ensemble auf der Bühne parallel Unterschiedliches zeigt und tanzt. Bisweilen wünscht man sich - nicht zum ersten Mal in Kassel - eine leerere Bühne mit weniger Akteuren...

 

 

Im Gegensatz zum ersten wilden Stück sind die Bilder nun fließender und meist spannungsloser. Die Compagnie realisiert einzeln oder in kleinen Gruppen, was man vielleicht machen möchte, wenn man S-Bahn fährt oder in einer Menschenmenge wartet. Irgendwann brennt der Hirsch, die eine Hälfte des Ensembles modelliert die andere als Lachende. Aus dem Off singt Klaus Nomi seinen „Cold Song“ bis die ganze Truppe einfällt: „Let me, let me / Freeze again to death!“

 

 

Ein interessanter und aufregender Abend in Kassel, der dem Publikum aber Neugier und Offenheit abverlangt.

 

 

 

Weitere Aufführungen:

 

13., 20., 22., 28. Mai, 17., 23., 29. Juni, 2. und 15. Juli jeweils 19.30 Uhr, 17. Juli 18.00 Uhr

 

Foto: © N. Klinger Staatstheater Kassel