Erinnerungen an Max Frisch, Teil 2: Das Drama „Graf Öderland“
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Graf Öderland“ war Max Frischs Lieblingsstück. Bis heute führt es auf deutschsprachigen Bühnen ein Schattendasein. Auch der scheidende Frankfurter Intendant Oliver Reese konnte sich trotz zahlreicher Bitten des Publikums nicht dazu entschließen, es in den Spielplan aufzunehmen.
Und das, obwohl es eine Traditionslinie nach Frankfurt aufweist. Denn die zweite Fassung von „Graf Öderland“ wurde am 4. Februar 1956 im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen Frankfurt in einer Inszenierung von Fritz Kortner uraufgeführt. Insgesamt existieren drei Fassungen. Die erste wurde am 10. Februar 1951 im Züricher Schauspielhaus den erwartungsvollen Zuschauern präsentiert, aber ohne deren Beifall zu finden. Die dritte Fassung, deren Premiere am 25. September 1961 am Berliner Schillertheater stattfand und die der ursprünglichen Skizze in Frischs „Tagebuch“ wieder näher kam, vermochte ebenfalls nicht zu überzeugen.1968 produzierte der Hessische Rundfunk einen Spielfilm. In der Hauptrolle des Staatsanwalts, der sich in die überlieferte Figur des mythischen Graf Öderland flüchtet, war Bernhard Wicki zu sehen. Aber auch der Film scheiterte an formalen Problemen der Darstellung. Das Stück erwies sich bei einer 1:1-Umsetzung als zu sperrig für Bühne und Film. Seither haben es nur wenige Regisseure mit politischem Gespür gewagt, dieses Stück so zu inszenieren, dass seine Botschaft verstanden wird. Und diese lautet u.a.: „Das kann doch nicht alles gewesen sein...“ (um ein Lied von Wolf Biermann zu zitieren). Oder auch „Wir sind das Volk“; eine Lesart, der Volker Lösch in Dresden angesichts der Pegida-Aufmärsche im Herbst 2015 folgte. Das Stück passt in eine Zeit und eine Gesellschaft, in der sich die Widersprüche des Kapitalismus erneut und besonders folgenreich für den Einzelnen offenbaren.
Im „Graf Öderland“ ist - wie im Gesamtwerk Max Frischs - die menschliche Verlorenheit ein zentrales Thema. Die Hauptfigur ist verloren in der geistigen und politischen Enge des bürgerlichen Alltags, unfähig, aus einem gesellschaftlichen System auszubrechen, das als Kette unabweisbarer Sachzwänge deklariert wird. Als sie den Ausbruch endlich wagt, gerät sie in neue Abhängigkeiten, weil sie deren Strukturen nicht erkannt hat. Verlorenheit, deren Erkenntnis man verdrängt, weil man nicht zugeben will, dass man desorientiert, dass man ein Irrender und Suchender ist, äußert sich in Verlogenheit, in Verlogenheit über das eigene Leben, die eigenen Wünsche, die eigenen Perspektiven. Die Menschen flüchten sich aus der Realität, indem sie vermeintliche Tugenden kreieren und sie kleistern damit die Risse in ihrem Leben zu, kleben eine Tapete über das brüchige Mauerwerk, weil die Wahrnehmung dieser Brüche alles in Frage stellen würde. Weil sie die Wahrheit fast noch mehr fürchten als den Tod. Weil sie ahnen, dass sie, obwohl Teil der lebendigen Welt, sich aus dieser bereits als Mitgestalter verabschiedet haben. Die Attribute dieses Abschieds sind falsche Genügsamkeit, die Verneinung der eigenen Persönlichkeit und die unaufrichtige Zustimmung zu den gegebenen Verhältnissen.
Bereits in seinem „Tagebuch“ verfasste Frisch im Jahr 1946 eine erste Prosaskizze des Stücks und sie macht verständlich, warum er dieses Drama als sein liebstes und geheimnisvollstes bezeichnet hat.
Am Beginn der Handlung steht die nicht nachvollziehbare Tat eines gewissenhaften Bankangestellten. Der hat einen Hausmeister grundlos mit der Axt erschlagen. Der Staatsanwalt, der die Anklage führen soll, bringt nach der Lektüre der Akten Verständnis für ihn auf:
„Es gibt Augenblicke, wo man sich wundert über alle, die keine Axt ergreifen. Alle finden sich damit ab, obschon es ein Spuk ist. Arbeit als Tugend. Tugend als Ersatz für die Freude. Und der andere Ersatz, da die Tugend nicht ausreicht, ist das einfache Vergnügen: Feierabend, Wochenende, das Abenteuer auf der Leinwand. Hoffnung auf den Feierabend, Hoffnung auf das Wochenende, all diese lebenslängliche Hoffnung auf Ersatz, inbegriffen die jämmerliche Hoffnung auf das Jenseits, vielleicht genügte es schon, wenn man den Millionen angestellter Seelen, die Tag für Tag an ihren Pulten hocken, diese Art von Hoffnung nehmen würde: groß wäre das Entsetzen, groß die Verwandlung. Wer weiß! Die Tat, die wir Verbrechen nennen, am Ende ist sie nichts anderes als eine blutige Klage, die das Leben selbst erhebt. Gegen die Hoffnung, ja, gegen den Ersatz, gegen den Aufschub... .“
Statt ein Plädoyer für die Verhandlung vorzubereiten, bricht der Staatsanwalt aus dieser Welt aus, entflieht den Verhältnissen, an deren Ordnung und Rechtsordnung er bislang wenig zweifelte. Er folgt der legendären Gestalt des Grafen Öderland, zieht mit einer Axt in der Hand durch die Lande und tötet alle, die sich seinem Anspruch auf Freiheit entgegenstellen. Hinter ihm scharen sich Anhänger, die Einzeltat des Juristen wächst sich zum allgemeinen Aufruhr aus. Die Rebellion führt am Ende zwar zu einem politischen Umsturz, doch die ersehnte Freiheit lässt sich nicht verwirklichen.
Am „Grafen Öderland“ lässt sich Max Frischs gelegentliche Nähe zum epischen, also erzählenden Theater, zu dem ihn Bertolt Brecht ermuntert hat, deutlich wahrnehmen. Das Drama wirkt bruchstückhaft, es scheint im eigentlichen Sinn des Wortes unvollendet zu sein. Das Ende und damit das Urteil über die Ereignisse werden in die Hand des Zuhörers und Zuschauers gelegt.
Am 28. November 2015 führte das Dresdner Staatsschauspiel unter der Regie von Volker Lösch eine revidierte Fassung des „Graf Öderland“ mit dem Untertitel „Wir sind das Volk“ auf. Das Stück richtet sich eindeutig gegen Pegida und ähnliche undemokratischen Zusammenrottungen.
Info:
Max Frisch wurde am 15.05.1911 in Zürich geboren und starb am 4.04.1991 ebenda.
Zu seinen wichtigsten Werken zählen: „Tagebuch eines Kanoniers“ (1940), „Die chinesische Mauer“ (1947), „Tagebücher 1946-1949“ (1950), „Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie“ (1953), „Stiller“ (1954), „Homo Faber“ (1957), „Biedermann und die Brandstifter“ (Hörspiel 1953, Bühnenversion 1958), „Andorra“ (1961), „Mein Name sein Gantenbein“ (1964), „Tagebücher 1966 - 1971“ (1972), „Dienstbüchlein“ (1974), „Montauk“ (1975).
Bibliografischer Hinweis:
Max Frisch
Graf Öderland
Eine Moritat in zwölf Bildern
Edition Suhrkamp
ISBN 978-3-518-10032-5
Im Internetportal „Nachtkritik“ findet sich eine Kritik zu Volker Löschs Inszenierung:
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11841:graf-oederland-wir-sind-das-volk&catid=179:staatsschauspiel-dresden&Itemid=100190