Persönliche Überlegungen zum Tod von Manfred Krug

Alexander Martin Pfleger

Frankfurt am Main (Weltexpreso) - Er kam aus dem Osten, aber seine Paraderolle sollte der überhebliche Westdeutsche schlechthin werden – mal mehr, mal minder sympathisch: Am 21. 10. 2016 verstarb der gebürtige Duisburger Manfred Krug in seiner Wahlheimat Berlin.


Es war vor einer Woche, in der Nacht von Sonntag auf Montag. Am frühen Montagmorgen hatte ich einen Termin beim Augenarzt. Wie üblich in solchen Fällen, beschloß ich, die Nacht durchzumachen – ich bin vor solchen Terminen, aber auch, wenn ich eine Reise antrete, zu aufgeregt, um Schlaf zu finden. So korrigierte ich bis in die frühen Morgenstunden hinein an den Texten anderer Leute herum – solcher, die mich darum gebeten, und solcher, die sich diese, meine Hilfestellung verbeten hatten; letzteres macht besonders viel Spaß!

Irgendwann spielt der Rücken nicht mehr mit. Man fährt den Laptop herunter, fläzt sich auf die Wohnzimmercouch, nimmt mit den Resten kalten Kaffees und lauwarmen Mineralwassers vom Vortag seine Morgentabletten zu sich und sucht nach etwas Ablenkung im Fernsehen, bevor der Gang an die frische Luft ansteht, zum Bus und zum Bahnhof.

Wieder einmal landete ich zielsicher in einem der Dritten Programme bei einer alten Folge von „Auf Achse“ mit Manfred Krug als Franz Meersdonk und Rüdiger Kirchstein als Günther Willers. Ich hatte diese legendäre Serie erst zwei Jahre zuvor für mich entdeckt, immer nur über nächtliche Wiederholungen, und bislang hatte ich noch keine einzige Folge von Anfang an gesehen.

Dieses Mal war unser Fernfahrerduo in Ungarn unterwegs, gemeinsam mit einem österreichischen Kollegen. Die drei waren, wenn ich es recht verstanden hatte, von einem hiesigen Kleinganoven gelinkt worden. Diesen versuchten sie nun in einem Lokal abzupassen. Als der Halunke schließlich eintraf und gewahrte, daß Willers und der Österreicher das Gespräch mit ihm suchten, suchte er lieber sein Heil in der Flucht. Eine wilde Verfolgungsjagd entspann sich – zunächst ohne Ergebnis.

Krug hingegen, also Meersdonk, blieb seelenruhig sitzen, einer Buddhastatue oder Bud Spencer vergleichbar, aß sein Mittagsmahl zuende und trank sein Bier aus, als ob er wüßte, daß der Flüchtige schon bald wieder am heimischen Tresen auftauchen würde.

Als dies dann tatsächlich geschah, näherte sich Meersdonk, also Krug, dem Ahnungslosen langsam von hinten, packte ihn am Schlafittchen und trat mit ihm in einen gepflegten Diskurs bezüglich seiner Motivation. Es sollte sich bald herausstellen, daß hinter allem ein zwielichtiger Oberschurke steckte.

Der etwas ängstliche Österreicher schlug vor, aufzugeben, und erbot sich, anderweitig eine Entschädigung für seine beiden bundesrepublikanischen Kollegen zu organisieren; besagter Oberschurke sei ihm eine Nummer zu groß. Für Meersdonk und Willers stellte dies jedoch keinen hinreichend begründeten Einwand dar.

Gemeinsam machten sie den schmierigen Fiesling in einem türkischen Bad ausfindig, wo er dem illegalen Glücksspiel (inklusive Falschspiel) frönte. Auch wenn sie ihn modetechnisch nicht zu überzeugen wußten – ihrer schlagkräftigen Argumentation hatte er schließlich nichts mehr entgegenzusetzen; insbesondere nicht, nachdem ihn Meersdonk/Krug in den Schwitzkasten genommen hatte: Auf diese Weise lernt jeder verweichlichte Widerling vom Balkan, was deutsche Wertarbeit zu leisten vermag!

Als ich diese Folge sah, lebte Manfred Krug bereits nicht mehr.

„Auf Achse“ wirkt für heutige Zuschauer wie aus einer anderen Zeit. Gut, da stammt es ja auch her. Es sind die fernen 70er Jahre, da der Schah gerade noch regierte und Saddam Hussein noch „unser Hurensohn“ war, wie es Donald Rumsfeld einst formulierte. Man bemühte sich um Weltläufigkeit und Lässigkeit, die im Rückblick vielfach verkrampft anmuten mag. Das Ganze erinnert bisweilen an bestimmte CDU-Wahlwerbespots vom Bundestagswahlkampf 1976 bis zur Europawahl 1989, als man auf Country-Klänge setzte, um die Weltoffenheit des „Made in Germany“ zu demonstrieren – was ja nicht falsch war, aber leider die Problematik des Auseinanderklaffens zwischen „gut gemeint“ und „gut gemacht“ überdeutlich vor Augen führte.

Franz Meersdonk dürfte wahrscheinlich als das Extremum an Revoluzzertum gedacht gewesen sein, das man dem Fernsehzuschauer in einer deutschsprachigen Produktion zuzubilligen bereit war: Jemand, der gerne mal protestierte – wenn auch nicht gegen die Obrigkeit, so doch gegen die Gastwirte und Tankstellenbetreiber unserer südlichen und südöstlichen Nachbarländer, wenn man zu lange warten mußte, der Benzinpreis zu hoch und das Essen nicht gut war – , aber ansonsten die deutsche Pünktlichkeit mustergültig inkarnierte.

Ob es nun dem berüchtigten Drehbuchverbesserer Manfred Krug geschuldet ist, der bekanntlich die meisten Skripte zu „Auf Achse“ nach eigenem Bekunden als „unter aller Sau“ empfand, oder einfach seinem darstellerischen Ingenium – insbesondere in den Folgen, in denen Meersdonks Verhältnis zu Frauen thematisiert wird (ich denke da vor allem an eine Folge mit Lisa Fitz, wo es um eine Flucht aus dem Harem oder etwas in der Art ging) und sein Machotum besonders deutlich zum Ausdruck gelangt, gelingt es Manfred Krug, seiner Figur unerwartete reflexive Momente zu verleihen: Als würde sich Franz Meersdonk bewußt werden, daß er gar nicht der lässige, weltläufige Typ ist, für den er sich selber halten mag und für den ihn auch viele andere halten mögen, sondern lediglich der deutsche Spießer in Reinkultur, der in der Fremde letztlich nur die Bestätigung der eigenen Vorurteile sucht und in der Regel auch findet.

Liest man sich die bisherigen Nachrufe auf ihn, aber auch viele der Würdigungen zu seinen Lebzeiten durch, so stößt man immer wieder auf zwei Stereotype: Zum einen habe er immer nur sich selber gespielt, zum andern sei er stets die ostdeutsche und später die deutsche Variante von irgendjemand anderem gewesen.

Der DDR-Schauspieler Manfred Krug wurde als „Marlon Brando des Ostens“ tituliert, was einer besonderen Präzisierung bedürfte, denn er spielte ja nicht nur den Aufsässigen; sein gesamtes Auftreten, bis hin zur Solidarisierung mit Wolf Biermann, wurde als Herausforderung empfunden, und daß es zwischen den Studiobossen von Hollywood und dem ZK der SED gewisse Unterschiede gab, sollte klar sein.

Auch der Musiker Manfred Krug, der „Udo Jürgens der DDR“ oder die ostdeutsche Variante der französischen Chansonniers, sollte mit seinem Einsatz für den Blues und vor allem für den Jazz immer wieder anecken.

Normalerweise meint es niemand böse, wenn man über einen Schauspieler sagt, er spiele nur sich selbst – aber jeder Schauspieler weiß, daß das die hinterhältigste Form von Kritik überhaupt sein kann: Sie negiert faktisch die Grundlage des Berufs – sie unterstellt die Unfähigkeit, jemand anderen darstellen zu können.

Und wer ist man denn überhaupt? Einem Interviewer, der ihm eröffnete, das Publikum liebe Manfred Krug, weil er sage, was er denke, erwiderte Manfred Krug, woher man denn wissen wolle, was er denke?

Projektionen sind an sich nichts Schlechtes. In Manfred Krug mochte man in der BRD zunächst den gemäßigt aufmüpfigen Bundesbürger sehen, der gerne mal auf den Putz hauen durfte, wenn das alles durch Pflichtbewußtsein gedeckt war. Später kam der Zug des vermeintlich Gemütlichen hinzu – möglicherweise ein besonderer Kunstgriff des Schauspielers Krug und seines Autors und Freundes Jurek Becker, den in der Tat als positive Identifikationsfigur gedachten Anwalt Robert Liebling eine Spur sympathischer erscheinen zu lassen, als er es objektiv betrachtet vielleicht doch nicht war. Nach dem Fall der Berliner Mauer – „deutsche Wertarbeit“, wie es in einer der ersten Folgen Ende der 80er Jahre einmal hieß – sollte sich hin und wieder zeigen, daß der wackelpuddingliebende Jurist den „Gemüts-Ossis“ doch nicht so ganz vorurteilsfrei gegenüberstand.

Für mich stellte die erste Begegnung mit der Schauspielkunst Manfred Krugs, wie für viele meiner Altersgruppe, wie auch im Falle Uwe Friedrichsens, die Sesamstraße dar, darin er die Figur des „Manfred“ mimte. Irgendwann einmal irritierte mich ein Fernsehfilm mit Manfred Krug (ich bin mir zu 99% sicher, daß es Manfred Krug war, nicht Uwe Friedrichsen und nicht Horst Janson) und – auf jeden Fall! – mit Ute Willing („Ute“ aus der Sesamstraße): Mich irritierte, daß zwei Figuren, die ich bislang nur im Ensemble mit Tiffy, Samson, Lilo und Herrn von Bödefeld erlebt hatte, sich nun in einem merkwürdig angespannten Verhältnis zueinander präsentierten; damals hätte ich das nicht so formulieren können. Meine Mutter und mein Bruder klärten mich infolgedessen über den Beruf des Schauspielers auf. Ich verstand langsam, daß das also nicht die Sesamstraße war – offensichtlich handelte es sich um ein Beziehungsdrama.

Später, lange vor „Liebling Kreuzberg“, folgte für mich Manfred Krug als Chefinspektor Joe Jenkins von Scotland Yard in den ersten vier Folgen der Edgar-Wallace-Hörspielreihe von maritim, mit Günther Lüdke als sein Sidekick Inspektor Elfort sowie Sascha Draeger und Alexandra Doerk als Nick und Nicky.

Zu Paul Stoever fand ich erst wesentlich später einen Zugang. Was läßt sich über das spaghettikochende Rauhbein aus Hamburg sagen – außer, daß er den Hexer bestimmt nicht hätte entkommen lassen und daß er natürlich ein weiteres Beispiel für Krugs Paraderollenmuster „Harte Schale – weicher Kern“ darstellen sollte, dessen Witzeleien nur seine empfindsame Seite überspielten? Im Zusammenspiel mit Charles Brauer als Peter Brockmöller sollte Manfred Krug lange vor dem „Tatort“-Hype der 2000er Jahre nicht nur sensationelle Erfolge erzielen, sondern immer wieder heißeste Eisen anfassen, die bis heute – leider! – nichts an Aktualität verloren haben. Gerade das wurde durch die scheinbare Gemütlichkeit der ab 1996 auch singenden Kommissare (böswillige Spötter wollten später nachgewiesen haben, daß es sich hierbei nur um ein Mißverständnis, und nicht einmal um ein produktives, entsprechender Stilmittel handelte, die in „Kottan ermittelt“ ihren Ursprung hatten) optimal abgefedert – stets wurde ein Mittelweg zwischen Unterhaltungsfernsehen und aufklärerischem Anspruch verwirklicht, ohne die ernsten Themen zu veralbern oder mit erhobenem Zeigefinger zu agieren. Das ist das nicht hoch genug zu veranschlagende Verdienst beider Darsteller!

Manfred Krug fiel nie durch Affären oder Abstürze auf. In den 90er Jahren gab es Geschichten um saumselige Mieter und einen geohrfeigten Autofahrer – all´ das konnte man als Fortsetzung gewisser Schrullen der von ihm verkörperten Charaktere interpretieren, und man tat es auch. Robert Liebling hatte einmal einem Einbrecher auf sehr drastische Art die Tatsache nahegebracht, daß man „Aufräumen“ mit „ä“ und nicht mit „e“ schreibt. Brockmöller meinte einmal zu Stoever: „Wenn Du Diplomat geworden wärst, hätten wir den Dritten Weltkrieg schon hinter uns!“ Nun gut, manchmal ging eben auch Manfred Krug über das hinaus, was man seinen Figuren zubilligen mochte, und beließ es nicht dabei, Zeitgenossen, die seinen Unmut geweckt hatten, Brockmöller gegenüber aus diplomatischen Gründen als „ein solches Mrglbrmpf“ zu bezeichnen.

Den Unmut Manfred Krugs zog sich auch Justus Frantz zu, dessen Jazzdarbietungen bei einem gemeinsamen Auftritt in Thomas Gottschalks „Wetten, dass…?“ am 3. 11. 1990 ihm schwach dünkten – Krug sagt eben doch, was er denkt, und häufig tun das auch seine Figuren. Das mochten vielleicht nicht alle.

Doch darf man ihn nicht mit seinen Rollen verwechseln – und vor allem darf man nicht die Rollen miteinander verwechseln! In besagter „Wetten dass...?“-Sendung stellte er seinen jüngsten Film vor, „Neuner“, worin er, erneut nach einem Drehbuch von Jurek Becker, unter der Regie von Werner Masten und an der Seite von Claudia Wedekind, Sibylle Canonica, Klaus Wennemann und Peter Lohmeyer, der seinerseits einige Jahre später den jungen Manfred Krug in „Abgehauen“ spielen sollte, als windiger Bauunternehmer aus dem Hessischen in Erscheinung tritt, der nach dem Mauerfall in Berlin und den neuen Ländern Morgenluft wittert, sich aber in persönlichen und geschäftlichen Fehltritten immer weiter verstrickt.

Theo Neuner wurde womöglich als weiterer Charakter nach dem Schema aufgefaßt, das man von Manfred Krug gewohnt zu sein glaubte. Doch erlag man hier gewiß einem subtilen Spiel von Autor und Hauptdarsteller, die gewitzt die Erwartungshaltungen der Zuschauer unterliefen, ohne daß diese das bemerkten. Neuner ist eben kein sympathischer Schlawiner – gibt es das überhaupt: Raubtierkapitalisten mit dem Herzen am rechten Fleck?

In seinen hellsten Momenten ist sich dieser Mann bewußt, welch einen Negativtypus er repräsentiert, und er warnt durchaus die unerfahrenen Ossis, daß sie es künftighin mit Typen wie ihm en masse zu tun hätten. Ansonsten scheint er sich aber doch der lllusion hinzugeben, er sei ein charmanter Schuft, vielleicht sogar ein heimlicher Sympathieträger – das ist er aber nicht: Kein „Liebling Kreuzberg“, wohl aber ein „Fiesling Dreieich-Buchschlag“.

Ob er sich wirklich eine Liebesbeziehung mit der Schwester seiner verstorbenen Geliebten erhoffte? Oder hoffte er gar, von seiner Frau ermordet zu werden? Vielleicht ist diese ganze Komödie einfach nur ein einziger, großer Tanz auf das Nichts zu. Neuners vermeintlich coole Sprüche sind letztlich nichts weiter als schlagfertig ausgestoßene Unverschämtheiten – etwa wenn er einem dienstbeflissenen Hotelangestellten, der ihm auf den Geist geht, auf die Frage, ob er noch etwas für ihn tun könne, zur Antwort gibt: „Ich hab´ das Hotel gekauft. Sie sind entlassen.“ Dies und anderes überspielt kaum die Leere, die wir uns in seinem Inneren denken sollten.

Für diese seine womöglich abgründigste Rolle wurde er mit dem bayerischen Filmpreis geehrt. Sein Engagement für ein großes deutsches Telekommunikationsunternehmen sollte er später bereuen. Ab Mitte der 90er Jahre rückte seine Bedeutung als Figur der Zeitgeschichte immer stärker in den Vordergrund und – parallel zu seinen Erfolgen als Sänger im „Tatort“ – erlebte sein musikalisches Frühwerk aus DDR-Zeiten eine kleine Renaissance.

Nun ist Manfred Krug verstorben. Er hat das Hotel gekauft. Wir sind entlassen. Der Dritte Weltkrieg steht uns noch immer bevor.