Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, Teil 3/5

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das bedeutsamste Werk der ersten Epoche israelitischer Literatur, das im zehnten Jahrhundert vor der Zeitwende entstand, ist das des so genannten Jahwisten.

Die Bezeichnung folgt der neueren historisch-kritischen Erforschung der Bibel, welche die Schriften, in denen der Gottesname Jahwe gebraucht wird, von jüngeren redaktionellen Bearbeitungen abgrenzt. Letztere werden als elohistische Quellen bezeichnet (in Anlehnung an den zweiten, im Alten Testament verwendeten Gottesnamen Elohim).

Der Jahwist verfasst keine historische Darstellung, sondern er entwirft eine Vergangenheit, die sich so nie ereignete, in die sich aber die frühe Entstehung Israels in die gleichnishafte, auf mündlicher Überlieferung fußende Beschreibung von der Schöpfung der Welt kompositorisch einordnen lässt. Sein Werk bildet die Grundlage der ersten vier Mosebücher (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri).

Der Philosoph Walter Benjamin hat diesem Phänomen Rechnung getragen, in dem er es als „erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit“ bezeichnete und Karl Kraus‘ Feststellung „Der Ursprung ist das Ziel“ relativierte. Denn laut Benjamin gab es diesen Ursprung, den paradiesischen Anfang, nicht. Vielmehr sei er erst das Ziel der Menschheitsgeschichte, das aber zwecks theologischer Legitimierung als verloren gegangene Vergangenheit, als Rückkehr zum ursprünglichen Sinn, ausgegeben würde. Dadurch würde auch der Widerspruch zwischen Naturwissenschaft und Theologie aufgehoben, denn die Erzählungen über die Schöpfung der Welt und über das erste Paradies seien nicht als Infragestellung der Evolutionstheorie zu bewerten. Vielmehr seien sie ein „Sturm vom Paradiese her“, der den Menschen aber von vorn, aus der Zukunft, entgegenwehte.

Nach dem Schöpfungsbericht beginnt das Jahwistische Geschichtswerk mit der Paradies- und Sündenfallsage (Genesis, Kapitel 2 und 3). Dann folgen die Überlieferungen von Kain und Abel (Genesis, Kapital 4), der Sintflut-Mythos (Kapitel 6 bis 8), Sagen über die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob (Kapitel 12, 15, 18, 24 bis 35) und die Novelle von Josef und seinen Brüdern und ihren Weg nach Ägypten (Kapitel 37 bis 50). Der zweite Schöpfungsbericht, der im Buch Genesis kurz nach dem ersten folgt, ist erst während des Babylonischen Exils entstanden (597 bis 539).

Aus der Familie der Erzväter geht der Legende zufolge das Volk Israel hervor, das in Ägypten geknechtet, aber durch Mose aus der Sklaverei herausgeführt wird. Am Sinai schließt Jahwe einen Bund mit seinem Volk, der ihm ein besonderes Gottesrecht gewährt (Exodus, Kapitel 1 bis 24). Ein entbehrungsreicher vierzigjähriger Marsch durch die Wüste schließt sich an, bis endlich die Grenze des verheißenen und gelobten Landes erreicht wird (Numeri, Kapitel 10 bis 32).

Von der Weltschöpfung bis zur Landnahme durch die israelitischen Stämme wird ein weiter Bogen gespannt. Der Jahwist sieht seine Aufgabe darin, die kultischen Traditionen seines Volkes zu sammeln und in einen fortlaufenden, sich auch unter den Bedingungen der Legenden logisch entwickelnden Zusammenhang zu bringen.

Auffällig ist, dass die einzelnen Abschnitte mitunter unzusammenhängend aufeinander folgen und bisweilen offensichtliche Widersprüche beinhalten. Sowohl bei der endgültigen Erstellung des Pentateuch, des Fünfbuches, um das Jahr 515, als auch bei der endgültigen Kanonisierung im Jahr 100 n.Chr. (!) haben die theologischen Bearbeiter diese Disparatheiten bewusst nicht korrigiert. Mutmaßlich geschah das, um eine dynamische, immer wieder von unterschiedlichen Vorstellungen und Zielen geprägte Entwicklung deutlich zu machen.

Eine Entwicklung, in der auch das Gottesbild Veränderungen unterworfen war. Der Gott der Vätergeschichte lässt sich noch als Übermensch begreifen. Seit dem Sinai-Ereignis aber ist dieser Gott nicht mehr fassbar, ist nicht länger menschlichen Vorstellungen unterworfen. In Exodus 3, Vers 14, wird erzählt, mit welchem Namen er sich Mose auf dessen Drängen hin vorstellt: „Ich bin der »Ich bin da«“. Die Juden sprechen folglich seinen Namen, der ohne Vokalzeichen als JHWH in der hebräischen Bibel wiedergegeben wird, nicht aus. Im Gebet und bei Bibellesungen nennen sie ihn Adonai (mein Herr) oder Haschem (der Name). Die diesem Gottesnahmen innewohnende Dynamik kann sogar bedeuten, dass die letzte Aussage der Theologie in der Verneinung Gottes besteht. Für alle Fundamentalisten, die mit der Bibel unhistorisch umgehen, ist das vermutlich die schwerste aller Sünden. Für andere aber könnte es ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Freiheit sein. Der theologisch hochgebildete Walter Benjamin neigte dem dialektischen und historischen Materialismus zu, was bei näherer Beschäftigung mit seinen Schriften nur konsequent erscheint.

Auf das Jahwistische Geschichtswerk folgt wenige Jahrzehnte später das Elohistische. Es schildert ebenfalls einige tatsächliche, aber überwiegend legendäre Ereignisse der israelitischen Frühgeschichte und umfasst auch die Bücher von Genesis bis Numeri. Diese, nicht einheitliche, Quelle wird so genannt, weil sie für die Zeit vor Mose durchweg den Namen Jahwe meidet und dafür stets allgemein Gott - hebräisch: Elohim - verwendet.

Die elohistischen Verfasser scheinen ihre Darstellung nicht mit der Schöpfung begonnen zu haben, sondern, kultischem Brauch folgend, erst mit der Berufung Abrahams. Der Gesichtskreis ist also auf die Volksgeschichte beschränkt. Dieses Werk schließt ebenfalls mit der Landnahme der israelitischen Stämme.

Auf Thronnachfolgebuch, Jahwist und Elohist folgen neben dem Buch Ruth, dem Psalter und den prophetischen Büchern noch weitere kleinere Schriften. Aber die Hauptthemen ändern sich kaum noch. Es geht - je nach Lesart - um den Weg Gottes mit seinem Volk oder um den Weg eines Volkes mit seinem Gott.

Das Alte Testament war zunächst in Aramäisch und Kanaanäisch sowie den Dialekten dieser eng miteinander verbundenen Sprachen verfasst worden. Erst nach dem Babylonischen Exil erfolgte die Anpassung ins Hebräische, der offiziellen Hoch-sprache Israels. Die heute verbreitete Fassung entstand erst endgültig im Verlauf der ersten zehn christlichen Jahrhunderte durch rabbinische Gelehrte. Im ersten Jahrhundert v.Chr. wurde es ins Altgriechische übersetzt; dies vor allem für die in Ägypten lebende jüdische Diaspora, die kaum noch Hebräisch verstand. Der Sage nach waren bis zu 70 Gelehrte an dieser Übersetzung beteiligt, deswegen wurde der Begriff Septuaginta (Griechisch: Siebzig) üblich. In der wissenschaftlichen Sekundärliteratur ist auch die Bezeichnung mit den römischen Ziffern LXX gebräuchlich.

Fortsetzung folgt.

 


Foto: Berg Sinai (c) imago

Info:

Es folgen die Teile:

Zwischen Messias-Hoffnung und Blutopfer - das Neue Testament (Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, 4)

"Sie werden lachen, die Bibel". Die Rezeption biblischer Schriften in der neueren Literatur (Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, 5)