Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, Teil 4/5
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Zu Beginn unserer Zeitrechnung befand sich Palästina im Umbruch.
Politisch gesehen war trotz der rebellischen Gesinnung einzelner israelitischer Kreise und kleinerer Aufstandsversuche die römische Herrschaft festgefügt. Umso unruhiger und unüberschaubarer aber war das geistige Leben - und das vollzog sich als dogmatische Bekräftigung oder als mehr oder weniger deutliche Infragestellung des überkommenen religiösen Kults.
Ein eindrückliches Beispiel dafür bieten die erst 1949 aufgefundenen Schriften der Sekte von Qumran am Toten Meer. Hier hatte sich an abgelegenem Ort eine Gemeinschaft zusammengefunden, die, von fanatischem Eifer für das Gesetz des Mose getrieben, die Masse des israelitischen Volkes samt der priesterlichen Führungsschicht in Jerusalem als vom Glauben abgefallen und für das Heil verloren ansah und nun als Gemeinde eines „neuen Bundes" auf den baldigen Anbruch einer totalen Gottesherrschaft wartete.
Den Mitgliedern der Qumran-Bewegung steht eine Gestalt nahe, die im NT erwähnt wird: Johannes der Täufer. Dieser sonderbare Mann hauste ebenfalls abseits des besiedelten Landes in einem wüstenähnlichen Landstrich am Jordanufer zusammen mit einigen Anhängern.
Auch er erwartet den bevorstehenden Anbruch des Reiches Gottes, dem ein Weltgericht vorangehen würde. Voraussetzung an der Teilhabe an diesem Reich Gottes auf Erden ist nach seiner Überzeugung die Bereitschaft zur Buße. Als Zeichen der Umkehr (Griechisch: Mentanoia) verlangt Johannes von jedem, sich einem Taufbad zu unterziehen, das er im Anschluss an seine Predigten jeweils im Unterlauf des Jordans vornimmt.
Auch der aus dem nordpalästinensischen Nazareth stammende Handwerkersohn Jesus hatte sich offenbar zwischen dem Jahr 27 und 30 nach der Zeitenwende von Johannes taufen lassen und bald danach begonnen, selbst öffentlich zu predigen und zur Umkehr aufzurufen. Dieses Wirken dauerte wahrscheinlich nur ein einziges Jahr. Dann wurde Jesus durch die misstrauische, einem religiösen Dogmatismus verpflichtete Jerusalemer Führungsschicht vor dem römischen Statthalter Pilatus wegen angeblichen Aufruhrs gegen die politische Gewalt angezeigt und von ihm nach kurzem Prozess zum Tode verurteilt und am Kreuz hingerichtet.
Jesus selbst hat keine einzige Zeile niedergeschrieben bzw. etwas Eigenes hinterlassen. Nachdem die historisch zwar nicht nachweisbaren, aber religiös bezeugten Ostererscheinungen die Apostel hatten annehmen lassen, dass ihr Meister in der Sphäre Gottes weiterleben und als Menschensohn und Weltenrichter alsbald wiederkehren würde, werden seine Worte und bald auch die Erzählungen über seine Taten als religiöses Vermächtnis gepflegt und zunächst mündlich überliefert.
Die ersten schriftlichen Berichte und Glaubenszeugnisse sind in Briefen dokumentiert, die an erste, noch überwiegend judenchristliche, Gemeinden adressiert sind. Der 1. Thessalonicherbrief aus dem Zeitraum 51/53 ist der erste dieser Briefe und das älteste schriftliche Dokument der Christenheit; in kurzen Abständen folgen weitere, darunter auch der berühmte Paulus-Brief an die Römer.
Erst für das Jahr 60 lässt sich eine erste Niederschrift von überlieferten Sprüchen und Erzählungen über Jesu Wirken, das Markus-Evangelium, nachweisen. Auf die Jahre 65 bis 70 lassen sich das Matthäus- bzw. das Lukasevangelium datieren, letzterem folgt zeitgleich die Apostelgeschichte.
Diese drei Evangelien stimmen sowohl im formalen Aufbau als auch weithin in der inhaltlichen Ausrichtung der Reden- und Erzählteile überein, auch wenn es unterschiedliche Akzentuierungen gibt. Die Forschung fasst sie unter dem Begriff Synoptische Evangelien zusammen, was vom griechischen Wort Synopsis „Zusammenschau" abgeleitet ist. Meist kann man einen Abschnitt aus einem dieser Evangelien neben den entsprechenden aus dem anderen Evangelium zum Vergleich anordnen. Durch den Seitenblick auf die Parallele wird oft die Überlieferungsgeschichte eines Abschnitts klarer und das Verständnis erleichtert.
Die Quelle für Matthäus und Lukas war zunächst das Markusevangelium. Es ist das kürzeste und älteste Erzählwerk über Jesus. Wo Matthäus oder Lukas vom Text des Markus abweichen, lässt sich fast immer ein besonderes schriftstellerisches Interesse nachweisen. Nämlich die Absicht, auf Erwartungen der Gemeinden eingehen zu wollen und die Vorgänge um Jesus von vornherein in einen heilsgeschichtlichen Kontext zu stellen. Doch nicht alles, was die beiden über Markus hinaus beinhalten, erklärt sich als eine „verbesserte und erweiterte Auflage" des Markusevangeliums.
Sowohl Matthäus als auch Lukas sind fast doppelt so umfangreich wie Markus. Während Markus mit der Wiedergabe von Jesus-Reden sehr sparsam ist, finden sich solche bei den anderen viel häufiger. Diese Redepartien stimmen oft wörtlich überein und machen zudem einen altertümlichen Eindruck. Das führt zu dem zwingenden Schluss, dass das Markusevangelium nicht allein als Quelle benutzt wurde, sondern dass Matthäus und Lukas darüber hinaus eine Spruchquelle benutzt haben, eine aramäische Sammlung jesuanischer Aussprüche (auch Logienquelle „Fragmenta Q“ genannt). Eingehende Untersuchungen haben nachgewiesen, dass die Spruchquelle noch früher abgefasst sein muss als das Markusevangelium. Leider lässt sie sich nicht mehr in ihrem gesamten Umfang rekonstruieren.
Soweit die Synoptiker Jesu Rede wörtlich wiedergeben, fällt auf, dass es sich dabei häufig um Zitate aus dem Alten Testament handelt. Das gilt beispielsweise für das Gebot der Nächstenliebe aus Levitikus 19, Vers 18. Aber auch die als letzte Worte am Kreuz wiedergegebene Klage »(„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ sind identisch mit Psalm 22, 2. Auch die Bezüge auf den alttestamentlichen Messias als den ersehnten geistlichen und politischen Befreier Israels tauchen bei Markus, Matthäus und Lukas regelmäßig auf. Jesus wird direkt und indirekt als ein Nachkomme Davids bezeichnet („aus der Stadt Davids“), dem wiederum zu seiner Zeit eine Gottessohnschaft (im übertragenen Sinn) attestiert wurde.
Das vierte Evangelium, als dessen Autor Johannes genannt wird, enthält wenig Erzählendes und gibt die Reden Jesu in einer sehr deklamatorischen, offensichtlich von einer göttlichen Offenbarung geprägten Sprache wieder. Das Judentum als religiöser Hintergrund des neuen Glaubens wird erkennbar in Frage gestellt. Auch in seinem Aufbau (Prolog, Offenbarungen in Form von Reden und Wundern) unterscheidet es sich deutlich von den anderen Evangelien. So bezieht sich das dem jüdischen Denken fremde Menschenopfer (zur Versöhnung mit der Gottheit) eindeutig auf die altgriechische Mythologie. Im ersten Kapitel wird von einem präexistierenden Logos gesprochen, also einem von Beginn der Welt an existierenden göttlichen Wort, das in der Person Jesu Gestalt angenommen habe. Das ist eine geistesgeschichtliche Tradition, die der des Judentums diametral entgegensteht. Das Johannesevangelium ist höchstwahrscheinlich um das Jahr 100 n.Chr. in der Umgangssprache der Spätrömischen Antike, dem Koine-Griechisch, niedergeschrieben worden.
Die Texte des Neuen Testaments (mit Ausnahme des Johannesevangeliums) wurden mutmaßlich zunächst in aramäischer Sprache mündlich tradiert, danach erfolgte die schriftliche Fixierung in der altgriechischen Umgangssprache der Zeit (Koine-Griechisch). Bereits am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts lag eine lateinische Übersetzung des NT vor, die ab 385 von Hieronymus bearbeitet wurde (unter Einbeziehung des AT). Diese Überarbeitung (Vulgata) wurde für lange Zeit die verbindliche Bibel der Katholischen Kirche. Die Übersetzung Martin Luthers basiert auf der griechischen Textrevision des Erasmus von Rotterdam vom Ende des 15. Jahrhunderts. Für die Übersetzung des AT benutzte Luther sowohl die Septuaginta als auch das hebräische Original.
Der Luthertext wurde im Verlauf der letzten fünfhundert Jahre mehrfach überarbeitet (revidiert). Gegenwärtig ist die Textrevision des Jahres 1984 sehr verbreitet; aus Anlass des Reformationsjubiläums 2017 wurde diese noch einmal redigiert. Wegen ihrer besonderen sprachlichen Kraft, die an Luthers Urübersetzung erinnert, wird die Revision von 1912 geschätzt. Im evangelisch-freikirchlichen Bereich sind vor allem die Elberfelder Bibel und die Schlatter-Bibel verbreitet, die sich um Urtextnähe bemühen, was jedoch häufig zu Lasten der Verständlichkeit geht.
Im Katholischen Bereich gilt die Einheitsübersetzung (der katholischen Bistümer) von Altem und Neuem Testament als Standardbibel. Sie zeichnet sich durch eine relative Nähe zum Urtext und einem verständlichen Deutsch aus.
Die sowohl in evangelischen Landeskirchen als auch in der katholischen Kirche viel gelesene GUTE NACHRICHT versucht die Verbindung von Urtext und deutscher Alltagssprache, was nicht immer gelingt.
Im wissenschaftlichen Bereich hat sich die aus der reformierten Tradition der Schweiz hervorgegangene ZÜRCHER BIBEL überwiegend durchgesetzt. In den Akademien wird daneben auch auf die Einheitsübersetzung (kommentierte Jerusalem-Bibel) zurückgegriffen.
Der Philosoph und Theologe David Friedrich Strauß (1808 bis 1874) legte mit seiner 1835/36 erschienenen Schrift „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ die Grundlage für die später einsetzende Leben-Jesu-Forschung.
Foto: Die Abbildung stellt den Theologen und Philosophen David Friedrich Strauß dar, welcher der Leben-Jesu-Forschung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entscheidende Anstöße gab. Ohne seine Arbeit wären die Schriften von Ludwig Feuerbach, aber auch von Karl Marx so nicht denkbar gewesen. Auch die historisch-kritische Bibelforschung fußt zu wesentlichen Teilen auf seinen Erkenntnissen.(c) "Das Leben Jesu", Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 2012
Info:
Es folgt Teil:
"Sie werden lachen, die Bibel". Die Rezeption biblischer Schriften in der neueren Literatur (Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, 5)