Hanswerner Kruse
Wittenberg (Weltexpresso) - Im Alten Gefängnis der Lutherstadt Wittenberg setzten sich bekannte zeitgenössische Künstler wie Ai Weiwei oder Markus Lüpertz mit dem Reformator auseinander. Dazu lädt an 40 Tagen der Ästhetik-Professor Bazon Brock in eine Besucherschule zur Ausstellung ein.
„Sie müssen ja dumm sein, wenn Sie nur hierher kommen um zu sehen, was Sie bereits kennen.“ Mit diesen Worten entlässt Brock (81) nach seiner eineinhalbstündigen hochinteressanten Vorlesung die Besucher in das düstere Gemäuer, das für einen gemeinsamen Rundgang viel zu eng ist. 66 Künstler haben eine Zelle gewählt und als Kunstwerk umgestaltet oder die Flure und den Hof für ihre Installationen genutzt. „Die meisten“, so Brock, „setzten sich auf vielfältige Weise mit dem Ausstellungs-Thema ‚Luther und die Avantgarde’ auseinander, nur wenige präsentieren das, was sie immer zeigen.“ Jonathan Meese etwa ruft mit einer Videobotschaft in seinem wild bemalten Kabuff wieder einmal „Die Diktatur der Kunst“ aus.
Ohne weitere Sinndeutungen sind manche Installationen berührend, die sich direkt auf den tristen Ort beziehen, der von 1906 noch bis 1965 in Betrieb war. Eine Künstlerin installierte auf dem blanken Boden eine große nackte Schaufensterpuppe, die ab und zu mechanisch ihren Hintern heben und anbieten muss. In einer anderen Zelle befinden sich hinter der Gittertüre zahllose weitere kleine Zellen, in denen Tonfiguren in Einzelhaft gehalten werden. Ein extrem reduziertes Objekt zeigen Ilya und Emilia Kabakov: Lediglich ein leerer Stuhl verweist auf die Leiden des Künstlerpaares beim Absitzen von willkürlichen Strafen in russischen Zuchthäusern. Farbige Bänder symbolisieren, wie bei den Nazis, die Etikettierung als politische, homosexuelle oder privilegierte kriminelle Gefangene.
Die riesige rosa Faust Erwin Wurms vor dem Knast verdeutlicht diese Hierarchien innerhalb der Anstalten. Doch fette Reifenspuren oben auf der Faust demonstrieren, darüber steht doch noch die Staatsmacht. Brock wies in seiner Begrüßung auf die 160 gefangenen Journalisten in der Türkei hin sowie die 60.000 weltweit eingekerkerten Künstler und Autoren: „Gefängnisse sind eher aktuelle Plätze für Auseinandersetzungen geworden als Museen und Galerien!“, meinte er zur Wahl des Ausstellungsortes.
Thematisiert wird in einigen Räumen die protestantische Bilderfeindlichkeit. Bunte Leuchtstäbe kreieren eine Zelle in der Zelle („Prison in prison“), in die sich Menschen im Konsumrausch selbst verfangen. Der konvertierte Katholik Lüpertz zeigt einen kleinen „Eiferer“, der seine eigene Ambivalenz zu Luther symbolisiert. Eine Form zum Menschengießen von Ai Weiwei („Man in a cube“) könnte die Zurichtung des neuzeitlichen, selbst gesteuerten Menschen kritisieren.
Manche Installationen fordern naiv lediglich den netten Umgang miteinander, etwa Günther Ueckers gestärkte weiße Laken. Einige Werke sind sehr verrätselt und erschließen sich nur durch geduldiges Betrachten und Nachdenken oder die Brocksche Besucherschule, die den geisteswissenschaftlichen Hintergrund der Lutherzeit erklärt.
Kritische Kunst kann auch komisch sein - das belegen auf zerknüllte Plastikplanen gedruckte Zeitungen, die im gesamten Treppenhaus hängen. Ironisch zersetzen sie den oft oberflächlichen Medienrummel um Luther. Doch wenn Besucher sich öffnen und auf Neues einlassen, wie von Brock gefordert, können sie eine überaus anregende Ausstellung (buchstäblich) erleben.
Fotos:
Titel. Lüpertz Markus Lüpertz „Eiferer“ (Skulptur) © Daniel Biskup
Bazon Brock Besucherschule © Hanswerner Kruse
Varga Weisz Varga Weisz „Paloma“ (Schaufensterpuppe) © Stefan Hofstettier
Erwin Wurm „Boxhandschuh“ © Hanswerner Kruse
Olaf Metzel „Luther rauf und runter“ (Zeitungen) © Hanswerner Kruse
Info:
Luther und die Avantgarde – Altes Gefängnis Wittenberg
bis 17. September 2017, Mo-So, 10-19 Uhr, Shuttle Bus 620 alle 20 Minuten vom Bahnhof
kruse-wurm Erwin Wurm „Boxhandschuh“ © Hanswerner Kruse
Da Wittenberg als Ausgangspunkt der Reformation gilt, beschäftigen sich viele Museen der Stadt mit Martin Luther, seiner Denkweise und deren Wirkung. Wichtig auf jeden Fall die Nationale Sonderausstellung, vgl. Weltexpressoartikel
https://weltexpresso.de/index.php/kulturbetrieb/9987-luther-ein-mann-viele-meinungen
https://weltexpresso.de/index.php/kulturbetrieb/9986-es-luthert
die fortgesetzt werden.
In Wittenberg wurde nicht nur der letzte Kirchentag gefeiert, sondern im Luther-Jahr gibt es zahlreiche weitere Events:
www.lutherstadt-wittenberg.de/luther-2017
ZITAT
„Luther ist neue Wege gegangen. Er war Avantgardist. Wer sind heute die gesellschaftlichen Wegbereiter, die Avantgardisten unserer Zeit. Sind es die Künstler?“, fragt die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“
www.lutherstadt-wittenberg.de/luther-2017
ZITAT
„Luther ist neue Wege gegangen. Er war Avantgardist. Wer sind heute die gesellschaftlichen Wegbereiter, die Avantgardisten unserer Zeit. Sind es die Künstler?“, fragt die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“