Ernst Hilmer
Landasberg/Haibach (Weltexpresso) - Doch Eva: Warum will sie Adam nochmals verführen? Was bedeutet dieser wiederholte Versuch, der zweite Apfel, nachdem die Ursünde der Erkenntnis schon geschehen und Adam, bereits im Stand der Schuld, Scham empfindet in seiner Nacktheit? Eva, offensichtlich die Inkarnation des Bösen, die Parteigängerin des Ketzers, dessen entstelltes Haupt sie Adam verheimlichen will, hinter ihrem Rücken verbirgt. Will sie ihn täuschen? Zum zweiten Mal?
Adam hingegen weicht mit dem Oberkörper zurück, in der Linken hält er schon den einen Apfel, dem der Erkenntnis, mit der Rechten verbirgt er mit Hilfe eines Kräuterbüschels sein Geschlecht. Wird er den zweiten Apfel annehmen, zum zweiten Male fallen, in Unkenntnis eines weiteren Verhängnisses, eines noch größeren? Sollte Erkenntnis, Erkenntnis der Wahrheit, ein Verbrechen sein? In was besteht dann dieses zweite Verhängnis, das über die Menschheit kommen sollte? Es ist die zweite Ursünde, die der Häresie, in der Abkehr von der rechtmäßigen Kirche.
Verwirrt, auf der Suche nach einer Antwort, wandert das Auge des Geflüchteten weiter. Ein roter, übergroß dargestellter Dolch. Die Hand, die den Griff umfasst, stößt ein auf das Haupt einer Frau, die auf einem Esel reitet und mit der linken Hand den Kopf eines Ziegenbocks mit sich führt. Eine Königin wohl, doch ihre Krone fällt unter dem Angriff zu Boden, die Fahnenstange in ihrer rechten Hand ist gebrochen, die Augenbinde, die sie tragen sollte, verrutscht. So sie ist nicht mehr blind, unschuldig, sie bedarf nicht mehr der Nachsicht, der Gnade des Erlösers. Es ist Synagoge, eine Frau als Sinnbild des Alten Testaments, des Judentums. Die Hand mit dem Mordwerkzeug ist geführt von einem mächtigen Arm, der sich als Verlängerung des rechten Querbalkens des Kreuzes in der Mitte des Bildes entpuppt. Dagegen führt die Hand, die aus dem unteren Kreuzesstamm erwächst, einen Hammer, der eine Stadt mit Befestigungsmauern und Türmen, wie sie aus Darstellungen des Tempels in Jerusalem bekannt sind, zertrümmert. Aus dem Tor dieser Stadt ragt ein Speer. Er sollte die immerwährende Bedrohung in Erinnerung rufen: die gegen die Christenheit gerichtete, hier noch nicht gebrochene Speerspitze der Synagoge. Die Botschaft des geköpften Sündenbocks lautet: Vertreibung und Vernichtung .
Der Dolch, der Hammer, Werkzeuge des Mordes und der Zerstörung, die Hände und die Arme, die sie führen, durchfährt es Heinrich, aus dem gleichen Holz, wie das Kreuz der Erlösung, Symbol der der Vergebung und Barmherzigkeit, des Baums des Lebens? Nein, das konnte nicht sein Glauben sein, das konnte nicht die Botschaft des Gekreuzigten sein. Wo aber ist das Heil in dieser Welt, die Erlösung?
Die Liebe Gottes offenbart sich zu dessen Rechten. Der Mensch Jesu ist tot, aus seinem Herzen fließt Blut und Wasser (Joh.19-34). Doch das Holz lebt. Wie der rechte Balken - aus der Sicht des Betrachters – so verlängert sich auch der linke Querbalken in einen mächtigen Arm. Die Hand weist mit zwei Finger auf das Wunder der Eucharistie: Aus der Herzenswunde Christi tritt ein Blutstrahl, der von einem großen Kelch aufgefangen wird. Das könnte unser Kelch sein, geht es dem Flüchtenden durch den Kopf, der rote Kelch als Zeichen unserer, der hussitischen Bruderschaft. Doch der Kelch hier ist aus Gold, es ist Ecclesia, die eine heilige und katholische Kirche, die den Kelch hochhält. Das überaus prächtige Kleid der Frau hat die grüne Farbe des lebendigen Kreuzes und fällt in hunderten Faltenwürfen über das Tier, auf dem sie kniet. Ein Tetramorph, ein Mischwesen, gebildet aus den Mensch-Tier-Sinnbildern der vier Evangelisten. Ecclesia trägt eine Königskrone, umgeben von einem goldenen Schein. Ihre Augen sind auf den Erlöser gerichtet, ernst und gefasst, eher fragend. Es ist, als hätte der Künstler nur sie darstellen wollen, alles andere als Beiwerk degradierend, als Pflichtprogramm seines Auftraggebers.
Entsprechend dem Baum der Erkenntnis auf der linken Seite des Gekreuzigten steht nun zu seiner rechten Seite der „Baum des Lebens“. Statt verführerischer Früchte trägt er Hostien, offenbar gedacht für das wartende Volk. Es hat Zuflucht gefunden unter dem Mantel einer Frau, die sich so den Wartenden zuwendet und tröstet - aber zugleich lehrend mit der rechten Hand auf den Gekreuzigten weist: Im Kelch ist leibhaftig sein Blut; die Hostie, das ist wahrhaftig sein Leib. Sie trägt keine Krone, doch ihr goldener Heiligenschein steht unter der Krone des Hostienbaumes, er weist sie aus als die Mutter des Gekreuzigten.
Der fremde Besucher versteht die Botschaft. Wein und Hostie sind nach der Wandlung leibhaftig und gegenständlich Blut und Leib Jesu Christi. Den Wein jedoch trinken nur die Priester der Kirche. Seine Brüder dagegen feiern das Abendmahl unter beiden Gestalten, ohne Unterschied von Herr und Knecht, Pfaffen und gläubigem Volk, alle essen vom Brot und trinken aus dem Kelch. „Dies ist mein Kelch, der für alle vergossen wird“, das waren doch die Worte Jesu, als er mit seinen Getreuen das letzte Mal am Tisch zusammensaß. Der Kelch, der Rote Kelch, unser Symbol für die Gleichheit und der Freiheit aller Christenmenschen.
Heinrich zieht sich die Kapuze über den Kopf. Nein, nicht auf Erlösung und Befreiung ist diese Kirche gegründet, sondern auf Gewalt und Unterdrückung. Nicht den Gott der Liebe predigen sie, sondern den Gott der Rache. Barmherzigkeit kann er von jenen, die das Kreuz auf ihre Fahnen geheftet haben, nicht erhoffen. Es ist noch frisch, die Farbe dieses Wandbildes, kaum getrocknet. Er hat keine Freunde hier, keine Gastfreundschaft kann er erwarten, er ist noch nicht gerettet.
Wohl mit Wehmut dachte der Flüchtling an seine Mutter, die er zurücklassen musste, mit Schmerz an seine Geliebte, die ihm zur Seite stand und vielleicht für immer verloren hat. Doch eine ebenso große Sehnsucht drängte ihn, unter seinen Brüdern zu sein. Unter seinesgleichen, die ihn verstanden, von denen er keine Angst zu haben brauchte. Er wollte unter ihnen sein, unter den 40 000, die sich auf dem heiligen Berg Tabor versammelt hatten.
Morgen würde er, so Gott will, bei Taus die Grenze überschreiten.
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