Hanswerner Kruse
Brachttal-Streitberg bei Wächtersbach (weltexpresso) - „Wir lieben es wieder anzufangen“, begrüßt Marlies Keßler den Besucher, der hier in Osthessen ein unscheinbares Dorfmuseum erwartete. Doch schnell wird er eines Besseren belehrt und in eine geschichts- und kunstträchtige Welt entführt: Die beginnt gleich hinter der riesigen Linde, einem verwilderten Vorgarten und dem kleinen Küchenhäuschen: Große umgebaute und restaurierte Fachwerkhäuser aus verschiedenen Epochen mit mehreren Eingängen sind gut gefüllt mit Waechtersbacher Steingut aus 180 Jahren.
Diese keramische Sammlung der Waechtersbacher Keramik von Klaus und Marlies Keßler ist kein wildes Sammelsurium, sondern ihre Schwerpunkte sind künstlerische Arbeiten des Historismus, Jugendstils ("Waechtersbacher Jugendstil") und Art Decos. Gezeigt wird ebenfalls strenges oder verspieltes Geschirr aus Steingut, das in England als historische Alternative zum Porzellan erfunden wurde. Das ist den Leuten in dieser Region eher bekannt, viele kennen die weltberühmte künstlerische Seite der 1832 gegründeten Manufaktur gar nicht. Das Werk entwickelte sich bis zur Jahrhundertwende zu einer bedeutenden Fabrik, die in ihrer Blüte viele Hundert Mitarbeitende beschäftigte und in ganz Deutschland bekannt war.
Man staunt bei einer Führung der Keßlers durch den Lindenhof über die kolossale Bandbreite der Gebrauchs- und Zierstücke: Zu sehen sind überladene historistische Gefäße, edle Jugendschalen, strenge Art-Deco-Vasen, nützliche Kacheln und Platten bis zu kriegsverherrlichenden Brottellern. Die Ausstellung versteckt nicht die unglücklichen Versuche aus den 1970er-Jahren, populäres Geschirr zu produzieren. Präsentiert werden auch moderne Kunsthandwerkern als Designer wie Karl Scheid oder - völlig überraschend - kühne freie Skulpturen aus Ton zeitgenössischer Kunstschaffender. Kreative wie die Architektin Zaha Hadid sollten in den 1990er-Jahren der vor die Hunde gehenden Fabrik wieder neues Leben einhauchen. Bekanntlich gelang das nicht, vor zehn Jahren stellte sie endgültig ihre Produktion ein.
Wir sitzen in den ausgebauten ehemaligen Ställen, der Halle, und lassen die Sammler erzählen. „Hier im Lindenhof haben wir unseren Traum verwirklicht“, schwärmen sie und berichten wie der begann: Sie trugen viel Waechtersbacher Steingut zusammen, es wurde immer mehr und mehr, das wollten sie den Leuten zeigen. „Die sollten sehen, was hier in der Region mal gemacht wurde. Die Fabrik holte die Welt nach Brachttal und die Keramik ist ja richtig nachhaltig, sie hat viele Zeiten überdauert.“
Vor gut dreißig Jahren begannen die beiden mit lokalen Handwerkern den Lindenhof auszubauen. „Klaus ist herumgefahren und hat aus Abrisshäusern oder Ruinen Eichenbalken besorgt, der ganze Hof lag voll davon“, erinnert sich Marlies Keßler. Gerade im großzügig gestalteten, oberen Teil der ehemaligen Ställe ist die Nutzung der Hölzer gut zu erkennen. Dieses Stockwerk wurde einige Jahre bewohnt, ist aber jetzt „die Galerie“ und soll noch stärker für Ausstellungen genutzt werden. „Unser Traum geht weiter, aber er verändert sich“, hoffen die Sammler. Bald können Interessierte unten in der Halle Pause machen und beim Kaffee ebenfalls ihre Geschichten hören.
Die beiden sind älter geworden, aber ihre Augen blitzen, wenn sie vom Ausbau des Lindenhofs und ihrer Leidenschaft erzählen oder von neuen Ideen träumen: Die Halle könnte ein Künstlercafé werden. Derzeit organisieren sie die Gründung einer Stiftung für die weitere Organisation und Erhaltung des Lindenhofs. Sie haben bereits die jüngere engagierte Jenny gefunden, die sich um die Galerie kümmert. Der Ausflug nach Brachttal-Streitberg lohnt sich - man muss kein Keramikfan sein, um das Gesamtkunstwerk Lindenhof zu genießen.
Fotos:
Hanswerner Kruse
Oben: Klaus und Marlies Kessler in ihrer Keramiksammlung
Mitte: Blick ins Küchenhäuschen
Unten: Kriegsteller - lieber Kommissbrot als gar kein Brot
Info:
Telefonische Anmeldung unter 06054-6714, weitere Infos http://www.lindenhof-museum.de