Nachtrag zu den brasilianischen Ausstellungen in der Schirn zur Buchmesse 2013, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Gerade mit dem gut zweieinhalbmonatigen Abstand zur Buchmesse und dem Ende der brasilianischen STREET-ART(27. Oktober) und der noch bis zum 5. Januar laufenden „BRASILIANA. Installationen von 1960 bis heute“ in der Schirn Frankfurt, möchten wir diese für uns neue Kunsterfahrung zusammenfassen.

 

 

Dabei kommt den Katalogen eine große Bedeutung zu, weil sie möglich machen können, sich sinnlich etwas zu vergegenwärtigen, was längst vergangen ist, wenn also die Ausstellungen längst perdu sind, sich deren Extrakt aber noch in schriftlicher Form und entsprechendem Bildmaterial wiederfindet. Kataloge sind zudem vor allem dann wichtig, wenn sie für einen selbst neue Gebiete der Kunst betreffen, weil das Schauen das eine, das theoretische Nachverfolgen das andere sind.

 

Für fast acht Wochen waren ausgewählte Frankfurter Straßen von Bildnissen oder Graffiti überzogen, bekamen Häuser eine ungewöhnliche Bemalung oder standen Installationen genannte Gegenstände und Assamblagen öffentlich herum. Anlaß war das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse: BRASILIEN, das mit dieser künstlerischen Aktion - in der urbanen, belebten Stadt und eben nicht in einem Museum - zeigen wollte, was die eigenständig in Brasilien in den 60er Jahren entstandene STREET ART an Brasilianischem in ihren großflächigen Graffitis und Installationen zu bieten hat. Dazu hatten die Kunsthalle Schirn, die inzwischen schon traditionell den jeweiligen Gastlandauftritt der Buchmesse mit einer Kunstausstellung begleitet, diesmal gleich zwei Projekte in Angriff genommen. Für die STREET ART hatte sie elf Künstler aus Brasilien eingeladen, der Stadt Frankfurt mit ihrer Kunst den Stempel aufzudrücken.

 

Uns gefiel das meiste. Richtig gut sogar. Herausragend die Straßenbemalung an der Hauptwache, auf die wir in der Katalogbesprechung eingehen. Eindrucksvoll auch die mit Worten schwer erklärbare Gestaltung der Fassade des Alten Polizeipräsidiums an der Messe, wo sich aus je einem Haufen sehr bunter gemalter Objekte, die wie Kleiderhaufen wirken, aber nicht Altware, sondern bunt und neu, an der Fassade Bücherstapel bis in den zweiten Stock erheben, auf denen links ein Mädchen steht, links ein Junge sitzt, beide ebenfalls mangaartig. Der Junge gewinnt durch die Sitzhaltung fast eine indische Anmutung. Die Fassade ist bemalt, die Wirkung ist aber durchaus dreidimensional, so daß das Auge stutzt, befürchtet es doch, das der Stapel gleich umfällt. Der ausführende Künstler heißt TINHO.

 

Natürlich schaut man sich solche Stadtgestaltung nicht allein anhand der Buntheit und der Gestaltung an, sondern fragt nach der Sinnhaftigkeit, also der berühmten Frage,was dieses Kunstwerk einem sagen soll. Die Interpretation ist hierbei kein künstlicher gedanklicher Prozeß, sondern liegt auf der Hand, wenigstes sehen wir das so: Dies ist der Hinweis auf die Situation der brasilianischen Kinder der breiten Schichten, deren sozialer Aufstieg, ja schon die Gewährleistung der sozialen Situation der Eltern mit Bildung zu tun hat, die als einsturzgefährdeter Elfenbeinturm wirkt, der direkt aus den kapitalistischen Märkten, also einer Konsumgesellschaft erwächst.

 

Stark wirkte auch die extrem großflächige Eckbemalung der Frankfurter Sparkasse mit Sicht auf die Taunusanlage. Das Unglaubliche ist hier, daß man diese Ecke noch nie angeschaut hatte, also gar nicht wußte, daß dort eine Häuserecke steht, weil die Sparkasse eigentlich 'um die Ecke', weit in der Mainzer Landstraße ihren Publikumsverkehr hat, und dieses Haus,da funktionslos einfach nicht im Blick liegt, was sich radikal durch die Bemalung ändert. Das sitzt im Schneidersitz – also schon wieder eine indische Assoziation – ein bis zur Taille nackter Mann, die Arme ausgebreitet, wie in Yogihaltung, in den ausgebreitenden Händen zwei Gegenstände, schwarze Jeans oder Arbeitshosen und klobige schwarze Schnürschuhe. Das Auffälligste aber ist sein an den Islam erinnerndes verhülltes Haupt, das nur niedergeschlagene Augen freiläßt, wobei die Stoffteile der Verhüllung im unteren Bereich sich verbreitern und bis unterhalb der Brust reichen.

 

Hier nun haben wir keine schlüssige Erklärung bereit. Während wir uns noch wundern, daß hier eine Häuserecke auftaucht und somit bewußt wird, entgleitet beim Weiterschreiten die Figur in ihre Teile. Denn nur direkt der Ecke gegenüber wirkt sie symmetrisch, die Kante geht genau durch die Figur durch. Geht man nach rechts, verliert sich mehr und mehr deren linke Seite, geht man nach links, verschwindet die rechte Seite. Das ist völlig logisch und im Einklang mit unserem Wissen von den Proportionen und Sehwinkeln. Aber wir nehmen es psychologisch nicht an, ist doch die ganze Figur sehr vielmehr als die Addition ihrer Teile.

 

Wichtig noch das verwendete Material. Der Erschaffer der Figur, Alexandre Orion,hat in Sao Paulo die von Abgasen geschwärzten Wände eines langen Autotunnels abgekratzt und diesen Dreck mit Farbe gemischt und auf der Fassade aufgetragen. Daß aus Dreck Kunst entsteht, ist nun auch nicht das Übliche.

 

Interessante Gänge durch die Stadt also, die zeigen daß Brasilien eine eigene öffentliche Kunstsprache entwickelt hat, die was den Begriff STREET ART angeht, von der westlichen entscheidend dadurch geschieden werden kann, daß in ihr kaum Schrift vorkommt, die wiederum herausragende Kennzeichnung des westlichen Graffiti ist. Fortsetzung folgt.

 

Kataloge:

 

 STREET-ART BRAZIL, Hrsg. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Verlag der Buchhandlung Walther König, 2013

TNR 1499155/978-3-86335-418-3 zum Preis von 29,80 Euro

 

BRASILIANA. Installationen von 1960 bis heute, hrsg. von Martina Weinhart und Max Hollein, Verlag der Buchhandlung Walter König, 2013

TNR 1499036978-3-86335-419-0 zum Preis von 28 Euro