Hanswerner Kruse
Schlüchtern (Weltexpresso) - Bei der näheren Betrachtung der Kunstwerke beschäftigen wir uns zunächst mit dem Kämpfer Michael und dem Drachen, dann analysieren wir Michael als Seelenbegleiter.
Der Kämpfer und der Drache
Auf dem linken Halbrelief sehen wir Michael im Moment des Sieges über den Drachen. Sein Gesicht ist angespannt, voller Präsenz und Kraft, aber nicht grausam, gar sadistisch. Der Leib ist voller Energie, bereit weiter zu kämpfen - aber auch bereit, von seinem besiegten Widersacher abzulassen, ihn nach seiner Niederlage nicht sinnlos zu demütigen. Die Schwertlanze ist noch voll Kraft gestreckt, das Schild schützt und bietet zugleich, symbolisiert durch die angedeutete weiße Taube, auch den Frieden. Der Drache scheint in den letzten Zuckungen zu liegen, er hat in sich aber noch die mächtige Kraft des Bösen. Sein Maul mag noch ein letztes Mal Verwünschungen ausstoßen, doch seine Stärke ist gebrochen.
Wir spüren, dass sich Ungeheures abgespielt haben mag. Michael ist ganz schwebende Macht und Kraft, eine in Energie aufgelöste Gestalt, also nicht einfach nur eine kämpfende, cherubinische Figur. Michaels Bewegung, das Fliegende, setzt sich in der Bemalung des Schildes fort. Er trägt wie frühchristliche Götterboten einen Heiligenschein, das Mosaik zitiert Fliesenbilder aus Ravenna. In Hannah Wölfels Relief ist er kein realistisch dargestellter Kämpfer, sondern durch seine Abstraktion wird er zur göttlichen Macht. Verstärkt ist dieser Eindruck durch die leichte Diagonale der Schwertlanze, die wie ein Blitzstrahl, ein himmlisches Energiebündel wirkt. Michael bringt nicht die Kraft des Guten, er IST die Kraft, die Erlösung und das Gute! Die Mosaikarbeiten symbolisieren spirituelle Kraft und verstärken in beiden Bildern seine heilige Aura.
Er befindet sich hier in der Tradition verschiedener Heldensagen und entsprechender bildhafter Gestaltungen, etwa als Anführer himmlischer Heerscharen gegen das Böse. Dargestellt ist er von der Künstlerin als derjenige, der im Einzelkampf den Erzfeind Luzifer, den gefallenen Engel, besiegt und aus dem Himmel wirft. Die bekannteste künstlerische Version davon ist diejenige, in der er den Drachen als die Inkarnation und Verdichtung des Bösen unterwirft.
Die Künstlerin hat lange um die Pose und den Gesichtsausdruck Michaels gerungen. Sie versucht den konsequenten Kampf für das Gute ohne triumphierende Überheblichkeit, ohne sadistische Lust am Krieg und an der Qual anderer darzustellen. Sie musste die Teilnahmslosigkeit Michaels ebenso vermeiden wie eine blutrünstige Lust, wie wir sie von mittelalterlichen Kampfdarstellungen kennen. Michael gewinnt auch bei ihr, wie in frühen Renaissancebildern, die durchgeistigten Züge einer idealen Beherrschung der Affekte, die den höfischen Edelmann vom gewaltbereiten kampfeslustigen Ritter trennte. Sie setzte ihn aber auch ab vom gegenwärtigen Machogehabe weltrettender Medienhelden und gab ihm keinen Männerkörper voller Muskelberge.
Der Seelenbegleiter
Auf dem rechten Halbrelief sehen wir Michael als Begleiter menschlicher Seelen auf dem Weg in den Himmel. Sein Antlitz ist realistisch, wirkt vergeistigt, entspannt, zugleich aber auch entschlossen. Er mag soeben die menschlichen Seelen gerichtet, die Guten von den Bösen getrennt haben. Jetzt aber hat er diese, sicher nicht leichte Anforderung, souverän erledigt, er hat die ausgewählten Seelen unter seine Fittiche genommen und ist bereit für ihre Begleitung in eine andere Welt. Auch dieser Michael ist mit einem Heiligenschein versehen. Oberkörper und Gewand sind gerade noch erkennbar, wie auf dem anderen Relief erscheint sein Unterkörper nur als abstrakte Bewegung.
Verstärkt wird diese Bewegung durch die kraftvollen, riesigen Flügel, die - eine Neuheit in der Ikonographie der Engel - nicht am Rücken angesetzt sind. Flügel, Arme, Hände sind fast identisch, nur aus einem Flügel ragt noch eine Hand welche die Waage hält. Sie ist ein Kunstgriff, um die Waage ins Bild zu bringen. Als menschliche Gesichter sind die Seelen zwar erkennbar jedoch maskenhaft abstrahiert, sie erscheinen als humane Archetypen, etwa jung oder alt, weiblich oder männlich, asketisch oder sinnlich. Die Anmutung dieser geretteten Seelen changiert vom Leiden zum Glück. Einerseits sind sie unter die Fittiche genommen, andererseits setzt sich in ihnen die Bewegung des Flügels fort. Insgesamt sind Michael und die von ihm geschützten Seelen der Welt entrückt, die gesamte Szenerie wirkt luftig, frei, der Schwere enthoben: die Gruppe befindet sich im Limbus.
Flügel und Seelen bilden einen Zuflucht bietenden Kreis, einen großen symbolischen Schutz. Nicht die Apokalypse, nicht die Selektion von Gut und Böse, sondern der Moment des Friedens und der Erlösung werden durch die Künstlerin ausgedrückt. Von manchen Sterbenden wissen wir um diesen zufriedenen, entrückten Gesichtsausdruck. Auch in der Sakralkunst kennen wir Beispiele der Gequälten und Sterbenden, die bereits erlöst wirken: „Bei Martyrien sind Engel regelmäßig zugegen, um die heiligen Blutzeugen noch vor ihrem Tod den Himmel schauen zu lassen, der ihrer bereits harrt, sie mit dieser Erscheinung zu trösten, die ihnen das Ende aller Leiden verkündet“, meint Kunsthistoriker Heinz-Georg Held.
Der Gedanke, dass Flügelwesen die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits überführen, war im Altertum über den gesamten Mittelmeerraum verbreitet gewesen. Hermes etwa wird bereits bei Homer als Psychopompos, als Führer der Seelen, bezeichnet. Die christliche Kunst hat diese Vorstellung auf die Wesen übertragen, die schützend und tröstend die Seelen aus der irdischen in die himmlische Welt geleiten. Aus den szenischen Darstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts entstand allerdings jener Schutzengel-Typus, der bis heute in den religiösen Kitsch- und Kinderbüchern weiterlebt.
Hannah Wölfel greift nicht auf diese Klischees zurück, sondern spannt mit ihrer Michaelkreation einen großen Bogen vom hohen Mittelalter zur Moderne. Einerseits ist der Engel vergeistigt, nicht fleischlich, nicht menschlich wie in den Gestaltungen der frühen Renaissance. Auch der Heiligenschein ist ein Zitat aus sehr frühen Engeldarstellungen, die zum Ende des Mittelalters fehlen. Andererseits wird der Psychopompos abstrahiert auf Schweben, Schutz und Ruhe. Wie in Bildern zum Beginn der Moderne im frühen 19. Jahrhundert, etwa von Francisco de Goya oder Eugène Delacroix, stehen sehr stark die Gefühle, die im Betrachter hervorgerufenen Assoziationen, vor den konkreten, narrativen Ereignissen.
Wird fortgesetzt.
Foto:
(c) Hanswerner Kruse