useumsufer.deIN REFERENCE TO A SUNNY PLACE, Ausstellung im Fotografie Forum Frankfurt (FFF) , Teil 2/2

Elina Brotherus

Frankfurt am Main (Weltexpresso)  – ARTISTS AT WORK (2009). Wer beobachtet wen? Wer ist Künstler*in, wer das Modell? Wem gilt der "letzte Blick"?
Da ich seit langem mit mir selbst als Modell arbeite, wollte ich die Ideen und Überlegungen zur künstlerischen Perspektive, zur Rolle des Modells und zum Selbstporträt einer Künstlerin oder eines Künstlers weiterentwickeln.

In der Kunstgeschichte gibt es einen Typ von Bildern, bei denen der Maler sich mit dem Modell im Atelier präsentiert (und oft über die Schulter zum Betrachter schaut). Ich wollte eine Situation schaffen, in der das Modell sich selbst als Modell präsentiert. Traditionell beobachtet der Maler das Modell und das Modell beobachtet niemanden. In der "unheiligen Modellsitzung" meiner Serie Artists at Work werden die Rollen vertauscht: Das Modell wird zur Bildermacherin und die Maler werden zu Modellen. Im Prinzip ist die Situation ähnlich wie bei einem Selbstporträt, bei dem ich in die Kamera schaue, die auf einem Stativ steht, und mit dem Drahtauslöser verdeutliche, dass ich gleichzeitig Urheberin und Subjekt, Künstlerin und Modell bin. Die Maler bei der Arbeit lassen das Modellstehen jedoch noch realer erscheinen. Außerdem wollte ich wissen, wie es sich auf die Arbeit der Maler auswirkt, wenn das Modell zu ihnen zurückschaut, die Beobachter beobachtet und seinerseits ein Selbst-Porträt mit dem eigenen Medium anfertigt.

Ich posierte für die jungen Maler Jan Neva und Teemu Korpela im Kalervo Kallio Ateljee in Helsinki, von November bis Dezember 2009. Beide haben an der Kunstakademie in St. Petersburg studiert, wo die traditionelle Aktmalerei immer noch gepflegt wird. Sie haben mich gemalt, und ich habe uns simultan gefilmt. Ich realisierte eine Serie von neun Fotos (analoge C-Prints im Mittelformat) und ein digitales HD-Video mit zwei Kameras.


ARTIST AND HER MODEL (2005–2011)

Ich mache seit so vielen Jahren Selbstporträts, dass meine eigene Figur zu einem vertrauten Zeichen, einem Wort in meinem Wortschatz geworden ist. Nach Model Studies und Études d'après modèle, danseurs konzentriert sich die Serie Artist and her model auf die Tatsache, dass hier Künstlerin und Modell ein und dieselbe sind. 
Die Kunsthistorikerin Susan Bright schreibt über das Werk: „Ihr [Brotherus‘] tiefes Verständnis der Kunstgeschichte hat den paradoxen Effekt, dass man sie
als Person, aber auch als Modell betrachtet. In ihren Fotografien spürt man eine Nähe zu ihr, aber auch eine kühle konzeptionelle Distanz. Dies erschwert die Betrachtung des Werks als Selbstporträt, Landschaft oder Tagebuch, und so werden Fotografien, die auf den ersten Blick oft ruhig und geradlinig erscheinen, mit der Zeit immer dichter und aufgeladener, je länger man sich mit ihnen beschäftigt. Die ‚Hintergrundgeschichten‘, die sich hinter den schönen, üppigen
Kompositionen verbergen, nehmen an Tiefe zu, wenn sie den mitunter beängstigenden Punkt "in der Mitte ihrer Karriere‘ erreicht und auf ihr Leben als Künstlerin zurückblickt.“


MEANINGLESS WORK (2016 bis heute)

Nach 20 Jahren der Selbstdarstellung in meinen Bildern hatte ich das Gefühl, dass ich alle Posen, die ich mit meinem Körper einnehmen konnte, durchgespielt hatte. Den Weg aus dieser Sackgasse wies mir Fluxus. Anlässlich meiner Nominierung für den Prix Elysée 2016 begann ich, Partituren von Fluxus-Events und andere schriftliche Anweisungen von Künstler*innen als Grundlage für neue Arbeiten zu verwenden.

Meaningless Work ist eine noch immer andauernde Serie. Sie hält mich neugierig und erlaubt mir, neue Entdeckungen zu machen, während ich weiterhin das tue, was ich am besten kann. Außerdem ermöglicht sie mir, sowohl vor als auch hinter die Kamera zurückzukehren. Um es mit Arthur Köpcke [deutscher Fluxus-Künstler] zu sagen: "Die Leute fragen: Warum? Ich frage: Warum nicht!"


THE BALDESSARI ASSIGNMENTS (2016 bis heute)

Für seine unentschlossenen Studierenden hielt der amerikanische Künstler John Baldessari in den 1970er Jahren am CalArts [California Institute of the Arts, Santa Clarica, USA] eine Liste mit "Kunstideen" bereit. Ich begann, diese Ideen als Aufgaben in meinem eigenen Unterricht einzusetzen. Ich sah, wie viel Spaß die Studierenden bei den Baldessari-Aufgaben hatten, und dachte mir, die möchte ich auch machen. Als ich 2016 für den Prix Elysée nominiert wurde,
begann ich, verschiedene Anleitungen wie Fluxus-Event-Partituren und eben auch Baldessaris Ideen als Grundlage für neue Arbeiten zu nutzen. Die Baldessari-Assignments sind eine noch immer laufende Serie.


RÈGLE DU JEU (2016–2017)

Règle du jeu ist das Ergebnis meines Carte blanche PMU-Preises in Frankreich 2017. Das Werk wurde erstmals im Centre Pompidou ausgestellt und gleichzeitig als Monografie bei Editions Filigranes veröffentlicht. Ich verwende auch hier Partituren von Fluxus-Events als Ausgangspunkt, aber ich habe die Idee der Partitur erweitert und mich von einer Reihe von Künstler*innen, Filmemacher*innen, Fotograf*innen, Maler*innen und Dichter*innen beeinflussen lassen. Bei diesen performativen und mitunter absurden Bildern werde ich von der Tänzerin und Choreografin Vera Nevanlinna begleitet.


MODEL STUDIES (2002–2008)

Die Serie Model Studies macht dort weiter, wo meine frühere Serie The New Painting (2000–2004) endete. Nun geht es noch deutlicher als vorher nicht um persönliche Geschichten oder die Dokumentation eines Lebens. Die Bilder in Model Studies sind allein aus visuellen Gründen konstruiert worden. Meine Aufmerksamkeit gilt dem Licht, den Farben, dem Rhythmus der Massen und klassischen Sujets. Oft wendet die Figur dem Betrachter den Rücken zu. Statt
buchstäblicher Konfrontation lädt diese Geste zu friedlicher Kontemplation ein. 


SEBALDIANA. MEMENTO MORI (2019)

Bevor ich Korsika zum ersten Mal besuchte, las ich eine Sammlung von Textfragmenten von W.G. Sebald, Bausteine für ein Buch über Korsika, das nach seinem frühen Tod unvollendet blieb. Sebald ist ein sehr ungewöhnlicher Schriftsteller, und schwer einzuordnen: Irgendwo zwischen Essayist, Romancier und Historiker ist er lehrreich, ohne trocken zu sein, poetisch ohne Sentimentalität, und er berührt zutiefst humane Themen im Nachkriegseuropa mit einem
großen Gefühl für Historizität. Seine Verwendung von Fotografien in seinen Büchern hat viele Künstler inspiriert.

Sebald schreibt über ein Hotel an den steilen roten Klippen mit Blick auf das Dorf Piana an der Westküste Korsikas. Sein Erzähler geht an einem abgelegenen Strand in der Nähe schwimmen und schafft es nur knapp zurück ans Ufer. Auf dem Dorffriedhof beobachtet er das Unkraut, das zwischen den Grabsteinen wächst, die Bescheidenheit der Natur, nicht gepflanzt und ungeplant, in starkem Kontrast zu den gepflegten, aber strengen Friedhofs-Anlagen in Sebalds Heimat Deutschland. Dann berichtet er von der noch jungen Friedhofskultur auf Korsika. Zuvor war es üblich, die Toten an einem schönen Platz auf dem eigenen Grund zu begraben, etwa unter einem bestimmten Baum oder am Hang hinter dem Haus, wo sie weiterhin auf das Land ihrer Vorfahren
blicken konnten. Die Ärmsten, die kein eigenes Land hatten, wurden in einem Gemeinschaftsgrab oder in einer Schlucht in den Bergen beigesetzt.
Sebald wurde zu meinem Reiseführer für Korsika. Ich besuchte Orte, die er erwähnte: den Wald von Aitone und das Bavella-Massiv, das Hotel, den Strand, den Friedhof in Piana und das Hinterland mit seinen skulpturalen Felsformationen. Ich erinnerte mich an meine Verstorbenen – und suchte nach Orten, die so schön waren, dass ich sie gerne dort begraben hätte, wäre ich Korsin. Auf dem Friedhof von Piana sammelte ich Unkräuter, um ein Herbarium anzulegen. 

Mein Vater war Hobbyfotograf und schenkte mir meine erste Kamera. Als meine Mutter im Alter von 37 Jahren Witwe wurde, ging sie auf die Kunstschule und erlebte vier Jahre der Erfüllung. Wegen meines Vaters bin ich Fotografin geworden, wegen meiner Mutter Künstlerin. Meine Mutter starb vier Jahre später im Alter von 41 Jahren. Sie wurde im selben Jahr wie Sebald geboren, starb aber 16 Jahre vor ihm. Kürzlich fand ich Aquarellpapier, für das sie keine Zeit mehr gehabt hatte. Die Blätter hatten unter der Feuchtigkeit gelitten, waren fleckig, teilweise schimmelig. Dieses Papier habe ich für mein Herbarium Pianense verwendet, das Cyanotypie-Herbarium des Friedhofs. So wurde dieses Werk zu einer Hommage nicht nur an die Insel der Schönheit und an meinen Lieblingsschriftsteller, sondern auch an meine Mutter, Ulla Brita Brotherus, geborene Sommar (1944-1985).


ONE MINUTE SCULPTURES (2017 bis heute)

Mit der Serie One Minute Sculptures nach Erwin Wurm habe ich meine Arbeiten fortgesetzt, in denen ich seit 2016 Anleitungen anderer Künstler als Ausgangspunkt verwendete. Ich hatte mich mit Fluxus und John Baldessaris „List of Art Ideas“ beschäftigt. Erwin Wurms One Minute Sculptures sind ebenfalls als partizipatorische Werke gedacht, und sie schienen perfekt für inszenierte, performative Fotografie. Ich begann mit der Serie, als ich 2017 zu einem Künstleraufenthalt im Museum Kunst der Westküste auf der deutschen Insel Föhr eingeladen wurde. Im darauffolgenden Jahr setzte ich die Serie auf der Baustelle des legendären Pariser Kaufhauses La Samaritaine fort, wo ich eingeladen wurde, neue Arbeiten für deren Sammlung zu produzieren.
Seinen Höhepunkt erreichte das Projekt bei der Vorbereitung meiner Einzelausstellung im Kunst Haus Wien. Zu diesem Anlass erklärte sich Erwin Wurm höchstpersönlich bereit, gemeinsam mit mir in seinem Atelier außerhalb Wiens für einige One Minute Sculptures zu posieren.

Pia Littmann und André Bischoff schreiben im Ausstellungskatalog Made on Föhr. Fotografie aus dem Artist-in-Residence-Programm (Museum Kunst der Westküste und Michael Imhof Verlag, Wyk auf Föhr 2021):
"Im Jahr 2017 entdeckte Brotherus das Prinzip der One Minute Sculptures des österreichischen Künstlers Erwin Wurm (geb. 1954) für ihre eigene künstlerische Praxis. Die Idee besteht darin, Menschen mit (meist) alltäglichen Gegenständen interagieren zu lassen und dabei bestimmte Posen einzunehmen. Wie der Titel schon sagt, dauern die Performances eine Minute und basieren auf schematischen Skizzen von Wurm, die zum Teil durch kurze schriftliche Anweisungen ergänzt werden. Diese zielen häufig auf amüsante, ja absurd wirkende Posen ab.

Im Gegensatz zu den Fluxus-Künstlern liegt Wurms Ausgangspunkt in der Skulptur und ihrer Ausdehnung in Raum und Zeit sowie in der performativen Beteiligung der Protagonisten. Während seine One Minute Sculptures wesentlich für den Ausstellungsraum, den White Cube, geplant sind und teilweise durch einen Sockel abgetrennt werden, überträgt Brotherus Wurms Ideen in den natürlichen Raum der Landschaft und setzt seine Anweisungen in ausgeklügelte
fotografische Kompositionen um, die permanent aufgezeichnet werden und so die Zeitgrenze voneiner Minute überschreiten. Es sind diese Fotografien – und weniger die Performance selbst – die für Brotherus im Vordergrund stehen."

Foto:
©museumsufer.de

Info:
Laufzeit: 04. Juni – 18. September 2022
Eröffnung: Freitag, 03. Juni 2022, 19 Uhr
Fotografie Forum Frankfurt, Braubachstr. 30–32, 60311 Frankfurt

RAHMENPROGRAMM
SO, 26.06., 14.08, 11.09., 15.00 KURATORINNENFÜHRUNG
mit CELINA LUNSFORD
SA, 10.09., 15.00 GALERIEGESPRÄCH
»IN REFERENCE TO A SUNNY PLACE« mit ELINA BROTHERUS und CELINA LUNSFORD
Fotografie Forum Frankfurt
Öffentliche Führungen immer mittwochs, 17.00

FFF AKADEMIE
jetzt anmelden:
SA/SO, 25./26.06., 10.00–18.00 WORKSHOP »WHERE IT ALL BEGAN. THE PINHOLE IN PRACTICE« mit ALESSANDRA CAPODACQUA [in English]
FR, 15.07., 16.00–20.00, SA/SO, 16./17.07., 10.00–18.00 WORKSHOP »CHARACTER DRIVEN STORYTELLING – VON DER FOTOGRAFIE ZUM FILM«
mit UWE H. MARTIN [auf Deutsch]
Weitere Veranstaltungen unter www.fffrankfurt.org
ÖFFNUNGSZEITEN Di–So 11–18 Uhr, Mo geschlossen
EINTRITT regulär 7 Euro, ermäßigt 4 Euro
ÖFFENTLICHE FÜHRUNGEN mittwochs, 17 Uhr
INFOS ZU AKTUELLEN COVID-REGELN: siehe www.fffrankfurt.org
 
Quelle: www.elinabrotherus.com