rote mutze 1894Serie: FREI.SCHAFFEND. Die Malerin Ottilie W. Roederstein im Frankfurter Städel bis 16. Oktober 2022, Teil 1

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eine verwegene Überschrift, die natürlich den bekannten Satz vom Zuspätkommen konterkariert. Andererseits kann jeder nachempfinden, daß der biblische Satz "Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde (Prediger Salomon)" für alle Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und auch die Zukunft gilt. Außerdem stimmt das ja gar nicht, daß Ottilie Roederstein bestraft worden wäre. Ihr Leben und ihr Werk ist doch anerkannt worden und sie als Person auch. Sie hat prächtig davon leben können. Das ist alles richtig, aber



sie hat zu ihrer Zeit und erst recht der Nachwelt nicht die Anerkennung der Kunstwelt, sondern ‚nur‘ die ihrer Auftraggeber erhalten, was sich ökonomisch auszahlte, aber auch bedeutet, daß ihr das Signum der ‚echten, großen‘ Künstlerin, die quasi für ihre Kunst brennt und hungert, nicht zugesprochen wurde.

Ob dies die Gründe sind, warum sie erst in den letzten Jahren als Name in der Frankfurter Gegend wiederauftauchte, obwohl sie, 1859 in Zürich geboren, seit 1891 erst in Frankfurt, dann seit 1909 in Hofheim/Taunus bis zu ihrem Tod,1937, lebte, zudem das Städel ihre Werke über alle Zeiten angekauft hatte. Immerhin sind Frankfurter Maler-Zeitgenossen - in erster Linie Max Beckmann und Jakob Nussbaum, seit 1921/22 lebte Jawlensky bis zu seinem Tod 1941 in Wiesbaden - nach 1945 ‚wiederentdeckt‘ worden. Unmittelbar in den Fünfzigern: Beckmann als Maler der Moderne, Jawlensky als Expressionist, viel später Nussbaum und erst seit einigen Jahren Ottilie Roederstein. Dabei ist sie von diesen Malern diejenige mit der interessantesten Biographie, als Frau sowohl beruflich wie auch privat mit ihrer Lebensgefährtin, sie ist zudem am stärksten in die Frankfurter Gesellschaft, besser: der der RheinMainRegion integriert.

Klar, die Ausstellungen im Städel sind alle gut, manche sehr gut, aber diese ist etwas ganz Besonderes, was über die üblichen Kunstausstellungen hinausgeht. Sie vermittelt beispielhaft, welche Einschränkungen eine Frau im 19. Jahrhundert – im Gegensatz zum 18. Jahrhundert und denen davor – erfahren mußte, wenn sie in Mitteleuropa Malerin werden wollte, sozusagen ein historisch-soziologischer Aspekt. Diesen Frauenaspekt werden wir vertiefen. Die Ausstellung zeigt auch, wie Ottilie Roederstein einerseits von Anfang an meisterhaft malte, ihre Entwicklung in der Aneignung neuer, auch modischer Stile liegt,  nicht qualitativ, was nicht abwertend gemeint ist, sondern eben ausdrückt, daß sie von Anfang an eine richtig gute Malerin ist. Die Ausstellung zeigt zudem den Wiederschein der Frankfurter Gesellschaft,
- von 1891, als nach Roedersteins Aussage künstlerisch noch tote Hose in der freien und sehr lebendigen         internationalen Reichsstadt Frankfurt herrschte, bis
- mit der Gründung der Universität 1914 und in der Folge bedeutenden Köpfen,
- dem Kommen von Max Beckmann 1916,
- dem gleichen Recht für Männer und Frauen durch die Weimarer Verfassung,
- dem Neuen Frankfurt mit seinem Riesenbauprogramm etc.,
sich auch eine lebendige Kunstszene in Frankfurt am Main etablierte, bevor die Nazis dies alles auslöschten.

Das Überraschende an der Biographie der Ottilie Roederstein sind die zeitlichen und örtlichen Überschneidungen, bei denen sie immer die Erste ist. Sie geht ab 1882 immer wieder zur Ausbildung nach Paris und hat dort schon lange ein eigenes Atelier und hält es bis zum Ersten Weltkrieg, als Paula Modersohn-Becker 1900 in die französische Hauptstadt kommt.  Madame Curie, damals noch Maria Skłodowska, war schon 1891 gekommen und geblieben. 

1886 war die fünf Jahre jüngere Ricarda Huch von Braunschweig nach Zürich gekommen, um dort ihr Abitur zu machen, was im Deutschen Reich für Frauen noch nicht möglich war, sie studierte dort anschließend, arbeitete bis 1895 in Zürich, erst 1889 kommt Rosa Luxemburg an die Universität Zürich und bleibt bis 1897, Lenin ist damals noch in Rußland, dann in München und lebt erst dann in Zürich, als Frauen auch in ihren Heimatländern studieren dürfen.

Und dann noch eine Gleichzeitigkeit, von der niemand spricht. Es geht um die im gleichen Jahr 1859 zwei Monate früher in Wien geborene Bertha Pappenheim, die eineinhalb Jahre vor Roederstein in Neu-Isenburg stirbt. Sie war und ist die Anna O., deren Psychoanalyse durch Josef Breuer und Sigmund Freud in Freuds Studien über Hysterie dokumentiert ist und die Breuer als eine Frau beschrieb „von bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger Kombination und scharfsichtiger Intuition [...].“. Bertha Pappenheim, deren Vater gestorben war, was mit ihrer Erkrankung zusammenhängt, ging zusammen mit ihrer Mutter 1888 nach Frankfurt am Main! Das ist drei Jahre, bevor Roederstein mit ihrer Gefährtin Winterhalter nach Frankfurt zieht, übrigens ist Anfang des Jahres 1891 Roedersteins Vater gestorben. Diese Übereinstimmungen. Bertha Pappenheim nimmt in ihrem liberal orientierten, in Kunst und Wissenschaft engagierten jüdischen Umfeld Projekte in Angriff, die die Lebensgrundlage von sozial Benachteiligten und insbesondere die von Frauen verbessert. Sie ist eine aktive Frauenrechtlerin. 

Haben sich die beiden Frauen gekannt? Eigentlich geht es gar nicht anders, die Stadtgesellschaft Frankfurts ist überschaubar und deren bedeutender jüdischer Anteil integriert. Hier ist also noch viel Raum für historische Forschung des damaligen Lebens in Frankfurt.
 
Zürich, Paris, Frankfurt, immer ist Ottilie Roederstein schon da , wenn andere erst kommen. Für Frankfurt gilt, daß beispielsweise Bertha Pappenheim schon da war, aber ihre Malerkollegen wie Max Beckmann u.a.  nach ihr kamen.

Eine beeindruckende Frau, eine beeindruckende Ausstellung, über die wir noch viel zu berichten haben.

Fotos:
Selbstbildnis mit roter Mütze1894
©Redaktion

Info:
Katalog: Hrsg. Alexander Eiling, Eva-Maria Höllerer, Sandra Gianfreda, frei.schaffend. Die Malerin Ottilie W. Roederstein, HatjeCantz, Städel Museum, Kunsthaus Zürich, 2022