„Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters“ im Liebieghaus in Frankfurt am Main, Teil 2

 

von Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Und dann gibt es erdenschwere, gewichtige Heilige und vor allem die Grabplatten und Epitaphe. Daß die einem monumental dünken, ist ja leicht zu erklären, aber wieso kommt einem jede Figur viel größer vor, als der Raum, den sie beansprucht. Sie haben eine Präsenz, völlig unabhängig davon, ob wie sie sofort zuordnen können: das ist der Heilige Georg, dies eine Maria, dort die Maria Magdalena.  Am schillerndsten aber bleiben die feinen Gesichter, die frechen, vorwitzigen Gesichtszüge, die intelligenten Augen, ein irgendwie gewitztes kirchliches und himmlisches Personal.

 

Wir sind hingerissen und haben doch von den rund 70 Werken bisher nur eines ausführlich beschrieben. Eines, das zu den 20 Werken gehört, die dem Meister Gerhaert und seiner Werkstatt zugeschrieben werden können und von denen ausgerechnet die lange Jahre im Liebieghaus lebende wunderschöne Dangolsheimer Muttergottes nicht beim Gerhaertschen Familientreffen dabei ist. Aber tatsächlich sind die Kunstfertigkeiten des Niclaus jeweils identisch, ob er sie an den kleinen, den menschengleichen oder den übergroßen Figuren ausübt: lebendig bewegt, raumgreifend, Stein oder Holz wie atmende Haut und in der Regel schöne Gestalten und Gesichter. Es sei denn, er will just das Gegenteil, wie den „Kopf eines Mannes mit Gesichtslähmung“ aus Buntsandstein schaffen. Der reckt in Dreiviertelansicht uns wie weiland Marlene Dietrich in „Zeugin der Anklage“ sein Gesicht entgegen, damit wir genauer sähen, was ihn entstellt. Unglaublich, sowohl die Details wie auch die Gesamtanlage der Figur.

 

Unwillkürlich kommt einem Franz Xaver Messerschmidt in den Sinn, mit seinen Charakterköpfen. Aber das ist 300 Jahre später und wieder denkt man, hier denkt einer schon vor und zeigt, daß es in der Kunst kein besser oder schlechter gibt, wohl aber ein ähnliches Fühlen und Gestalten des Menschen. Dann aber nimmt einen der Liebreiz, ja die himmlische Schönheit des Heiligen Georg und der Maria Magdalena gefangen. Für lange. Das sind Holzfiguren vom Nördlinger Hochaltar, der Georg in seiner Funktion putzmunter mit Kußmund auf Drachenjagd. Wenn man nicht wüßte, was spätgotisch sei, hier kann man es sinnlich erfahren mit der gewissen Naivität gewappnet, die erst der Barock zur Erfahrungsmasche macht.

 

Und wieso kommt einem schon wieder Barock in den Sinn. Schließlich ist das Goldgewand mittelalterlich und das fein ziselierte Kettenhemd auch, genauso wie der Lockenkopf und der feine Fuß, der aus den goldenen Leggins ragt. Ein echter Goldfinger , der in den Goldstulpen einmal das Schild, ein andermal die Lanze hält, mit der das böse Tier dort, der Drache erlegt wird Aha, der Drache, der ist nicht nur barocken, der ist schon Hollywood oder auch China, mit seinen naturalistischen Krallen und diesem Maul. Wirklichkeitsnah, obwohl es nie einen Drachen gegeben hat, wohl aber die menschliche Vorstellung vom Drachen. Und wieder einmal erinnern wir uns, daß uns niemand erklären kann, weshalb im Abendland der Drache das Untier ist, das der Mensch vernichten muß, und in China entgegengesetzt das Glücksversprechen.

 

Endlich kennen wir eine ganz genau, die sogenannte Bärbel von Ottenheim, ein Kopffragment einer Sibylle aus rotem Voltzien-Sandstein aus der Gegend um Straßburg um 1463 und dem Liebieghaus gehörend. Diese Attitüde der „sophisticated Lady“ wird verwirrend, wenn man ihre erröteten Wangen betrachtet, die dem Stein geschuldet sind. Überhaupt die Frauen. Sie sind schön. Die Marien, die Marien Magdalenen erst recht. Wenn er nur diese Figuren geschaffen hätte, wäre er schon eine bedeutende Figur, dieser Niclaus Gerhaert. Seine bildhauerischen Möglichkeiten gehen aber sehr viel weiter. Staunend steht man vor dem Kruzifix aus gelb-grauem Sandstein aus dem Jahr 1467, wo allein die Christusfigur eine Höhe von 2, 30 und 1, 93Metern  in der Breite hat. Das ist nicht mehr Menschenmaß und soll es auch nicht sein. Der Schmerzensmann am Kreuz ist Vorbild für so viele Nachfolger und eigene Repliken.

 

Interessante Lösung, wie man die zwischen 1467 und 1473 geschaffene und über sechs Meter lange Deckplatte Kaiser Friedrichs III., dem Vater des letzten Ritters Maximilian I. und Urgroßvater Karl V., aus dem Wiener Steffel ins Liebieghaus brachte: Sie hängt an der Wand als plastische bunte Folie und beeindruckt.“In echt“ dagegen die Grabanlage des Konrad von Busnang, 1464 vom Meister signiert und die vier Büsten weiblicher Heiliger um 1465, an die sich interessante Räume mit den Nachfolgern anschließen und der extra Raum, der Umstrittenes ausstellt.

 

Beim Hinausgehen, muß man durch die enge Pforte und sich vom steinernen Männerporträt verabschieden und liest: „Diese immer wieder als Selbstbildnis bezeugte Büste zeigt alles, was Nicolaus Gerhaert ausmacht.“ Das stimmt. Trotzdem schön, daß wir alle die anderen Sachen auch sehen durften, die vom Liebieghaus und Kurator Stefan Roller aus der ganzen Welt zusammengetragen wurden, wobei es nicht nur um den Künstler selber geht, sondern seine damalige Welt aus der ganzen Welt zusammengetragen wurde. Sie sind alle da, die von ihm lernten, Veit Stoß, Michael Pacher, Tilman Riemenschneider, Michel Erhart. Es gibt Ausstellungen, deren Besuch und das Nachwirken mit Katalog und Bildern einen glücklich machen. Diese gehört dazu.

 

 

bis 4. März 2012

 

Katalog: Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des späten Mittelalters, hrsg. von Stefan Roller, Michael Imhof Verlag 2011. Gewichtig. Sowohl als auch. Das ist ein ausgesprochen opulenter Katalog, der gleichzeitig mit den hervorragenden Abbildungen durch eine Vielzahl von Essays sozusagen den Extrakt herauspreßt, was heute Stand der Wissenschaft bezüglich der Figuren, ihrer Schöpfer, ihres Erhaltungszustandes und der Restaurierung, zur Ausbildung im Mittelalter, zu den Schulen und Regionen, zur Figurenbüste nördlich der Alpen , aber überhaupt der Bildhauerkunst Mitteleuropas gefragt und gesagt werden kann.

 

Wichtige technologische Änderungen konnten dann den neuen Stil über Europa verbreiten, weil mit Zeichnung und Druckgrafik auch die Plastik eingefangen wurde. Inwieweit sich die Steinbildwerke Niclaus Gerhaerts von seinen Holzbildwerken unterscheiden, sollten Sie selber nachlesen. Vielleicht der wichtigstes Teil ist dann im eigentlichen Katalog die Unterscheidung: gesicherte Werke, zugeschriebene Werke und Nachfolge und Rezeption, worauf wir im Artikel kaum eingehen konnten, die aber ungeheuer spannend als Wandtexte in der Ausstellung und ausführlicher in Bild und Schrift im Katalog niedergelegt sind. Dieser Katalog, dem profunde kunstwissenschaftliche Forschung vorangegangen ist, ist einfach eine Freude.

 

Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters. Eine Einführung in die Ausstellung ab 12 Jahren, 2011 Liebieghaus Skulpturensammlung. Woher sollen eigentlich Erwachsene die Motivation entwickeln, in Kunstausstellungen zu gehen, wann haben sie die Grundkenntnisse erhalten, um was es geht, wenn sie nicht beides: die Lust und das Wissen von Kindesbeinen an erfahren konnten. Wir unterstützen deshalb besonders solche Vorhaben wie diesen Begleitband, der jugendgerecht formuliert und diese nicht für dumm verkauft. Denn ob zehn oder zwölf oder vierzehn, wer so vieles von der heutigen Welt versteht, der lernt auch die vergangene mit einer Intensität kennen, die man herstellen muß, was dieser Band am besten verbunden mit einer Führung hervorragend leistet.

 

www.liebieghaus.de