„Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters“ im Liebieghaus in Frankfurt am Main, Teil 1
von Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Meist öffnet sich beim Ausstellungsbeginn die Weite der Säle und man gewinnt einen Überblick über die Ausstellung. Hier nicht. Hier geht man auf jemanden zu, bleibt stehen, der Atem stockt und man verharrt sehr lange vor diesem, in Stein gehauenen Gesicht: demütig, erschöpft, den Kopf zur Seite geneigt und auf die Rechte aufgestützt. Diese melancholische Geste, unterstützt durch die geschlossenen Augen, verbindet einen sofort mit diesem nicht jungen Mann, intuitiv entwickelt sich das Gefühl des Mitleidens mit ihm und man bleibt stehen und bleibt stehen, gebannt in dieses Gesicht schauend.
Aus Stein? Diese Figur? Dieser Stein auf jeden Fall wirkt völlig ‚unsteinig‘, wenn es ein solches Adjektiv gäbe. Er ist porös, aber auf eine Art, wie Natur künstlich gestaltet wird, so fein zeichnen sich selbst die Augenfältchen in ihm ab. Und wie gegerbtes Leder kommt einem auf einmal dieses Gesicht und die schlanken Finger vor, die von Adern durchzogene Hand, aus denen die Fingerknöchelchen ragen und die die Last von Gedanken tragen muß. Wir können nicht entscheiden, ob dieser Mann die Augen wirklich geschlossen hat oder durch einen Spalt konzentriert auf seine tiefere linke Hand richtet, in der etwas steckte, was abgebrochen ist.
Ein Betbruder, denkt man erst einmal. Ein Mönch in seiner Kutte mit der dazugehörigen Kurzhaarfrisur und während die Augen das Gewand abtasten, wird die Gewißheit immer stärker: das kann kein Stein sein. Ist es aber: rötlicher Kalksandstein aus dem Elsaß und das „Büste eines Mannes“ genannte Abbild ist der Meister Gerhaert selber. Wenigstens nimmt man das an: Niclaus Gerhaert von Leyden. Und eine Vermutung ist, daß er sich hier als Steinmetz zeigt und es einst das Baumeisterporträt der Straßburger Kanzlei darstellte, aber…es gibt viele aber. Wer auch immer er ist, er hat uns würdig in dieser Ausstellung des Niclaus Gerhaert begrüßt.
Zu seiner Zeit europaweit bekannt und von Kaiser Friedrich III. nach Wien geholt – der Hof war damals in Wiener-Neustadt – ist der Künstler heute nur Kennern bekannt. Die letzte große Ausstellung liegt Jahrzehnte zurück, die letzte wissenschaftliche Forschung 30 Jahre. Gesichert sind nur die Lebensdaten von 1462 bis 1467 in Straßburg und dann Wiener Neustadt bis zu seinem Tod 1473. Frau und Kinder hatte er in Straßburg zurückgelassen, war also sicher noch nicht sehr alt oder müde und krank vom Leben und starb wohl plötzlich. Er sei – das alles ist Annahme – um 1430 in Leiden in den Niederlanden geboren und von seinem Können her schließt man auf eine Ausbildung in Burgund, damals eine rechte Künstlerschmiede.
Die Ausstellung vermittelt die These, daß mit Gerhaert die Bildhauerkunst nördlich der Alpen über Generationen hinweg maßgeblich verändert und geprägt wurde und der Künstler „zweifellos einer der wichtigsten und einflußreichsten Künstler der Spätgotik“ ist. Hat man das obige Selbstbildnis endlich verlassen, liegen vor einem auf einen Schlag mehrere Räume, in denen es äußerst lebendig zugeht und in denen einen sofort die nächste Assoziation anfällt, wie nahe sich nämlich Spätgotik und Barock stehen und liegen. Da gibt es so süße Gesichter, mit Kußmund, ob Mann oder Frau, so dramatisch gebauschte Kleidung, so exaltierte Mimik und ein Schwung in den oft in sich gedrehten Figuren, daß man denkt, gleich heben sie ab.
bis 4. März 2012
Katalog: Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des späten Mittelalters, hrsg. von Stefan Roller, Michael Imhof Verlag 2011. Gewichtig. Sowohl als auch. Das ist ein ausgesprochen opulenter Katalog, der gleichzeitig mit den hervorragenden Abbildungen durch eine Vielzahl von Essays sozusagen den Extrakt herauspreßt, was heute Stand der Wissenschaft bezüglich der Figuren, ihrer Schöpfer, ihres Erhaltungszustandes und der Restaurierung, zur Ausbildung im Mittelalter, zu den Schulen und Regionen, zur Figurenbüste nördlich der Alpen , aber überhaut der Bildhauerkunst Mitteleuropas gefragt und gesagt werden kann.
Wichtige technologische Änderungen konnten dann den neuen Stil über Europa verbreiten, weil mit Zeichnung und Druckgrafik auch die Plastik eingefangen wurde. Inwieweit sich die Steinbildwerke Niclaus Gerhaerts von seinen Holzbildwerken unterscheiden, sollten Sie selber nachlesen. Vielleicht der wichtigstes Teil ist dann im eigentlichen Katalog die Unterscheidung: gesicherte Werke, zugeschriebene Werke und Nachfolge und Rezeption, worauf wir im Artikel kaum eingehen konnten, die aber ungeheuer spannend als Wandtexte in der Ausstellung und ausführlicher in Bild und Schrift im Katalog niedergelegt sind. Dieser Katalog ist einfach eine Freude.
Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters. Eine Einführung in die Ausstellung ab 12 Jahren, 2011 Liebieghaus Skulpturensammlung. Woher sollen eigentlich Erwachsene die Motivation entwickeln, in Kunstausstellungen zu gehen, wann haben sie die Grundkenntnisse erhalten, um was es geht, wenn sie nicht beides: die Lust und das Wissen von Kindesbeinen an erfahren konnten. Wir unterstützen deshalb besonders solche Vorhaben wie diesen Begleitband, der jugendgerecht formuliert und diese nicht für dumm verkauft. Denn ob zehn oder zwölf oder vierzehn, wer so vieles von der heutigen Welt versteht, der lernt auch die vergangene mit einer Intensität kennen, die man herstellen muß, was dieser Band am besten verbunden mit einer Führung hervorragend leistet.
www.liebieghaus.de