Ein sehr persönlicher Rundgang über „Evidence“ im Martin-Gropius-Bau
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - „Evidence“ ist die bisher größte Ausstellung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. Die Deutschen lieben ihn und strömen in den Martin-Gropius-Bau, nach nur fünf Wochen kamen bereits 100.000 Besucher.
Auf der Fahrt zu „Evidence“ flattert im S-Bahn-Waggon aufgeregt ein verirrter Spatz herum. Irgendwie stimmt dieser gefangene Vogel auf die Ausstellung ein, denn noch immer darf Ai Weiwei nicht aus China ausreisen.
Der riesige klassizistische Lichthof des Gropius-Baus ist mit kleinen Hockern zugestellt. Man sieht nur eine Landschaft aus den runden Sitzen. Gleichschaltung und Monotonie suggeriert diese serielle Installation - aber beim genauen Hinsehen, erkennt man an den Schemeln unterschiedliche Gebrauchsspuren, Farbe, kleine individuelle Unterschiede. Was immer das Ensemble bedeuten mag, eine starke Kraft geht von ihm aus. Es könnte ein stabiles Fundament für Solidarität sein, eine Basis, um gemeinsam etwas aufzubauen. Nach dem Besuch der einzelnen Ausstellungsräume kommt man jedes Mal in die Halle zurück und kann hier neue Energie schöpfen.
Manche bemängeln, die Objekte Ai Weiweis seien keine Kunst, sondern lediglich politischer Protest. Das mag für eine frühe, respektlose Fotoserie zutreffen, die sich in dadaistischer Tradition befindet: Nicht nur chinesischen Autoritäten zeigt er den ausgestreckten Mittelfinger, sondern auch westlichen Reiseklischees. Ebenso despektierlich sind Gasmaske und Überwachungskamera aus Marmor, die Handschellen aus Jade. Ironisch verklären sie die Insignien der missbrauchten Macht, die der Künstler am eigenen Leib erfahren hat.
Jedoch inszeniert Ai Weiwei keine psychodramatischen Settings, sondern transformiert durch Verhöhnung die persönlichen Erfahrungen und gibt ihnen künstlerische Form. Diese Wandlung verdeutlicht ein Video Clip am Rande der Ausstellung, den er nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis drehte: Verhöre; tanzende halbnackte Frauen in Ai Weiweis Zelle; Polizisten am Bett; abrasierte Haare; Hofgang mit Glatze, Kleid und grell geschminktem Gesicht: Die groteske Videoarbeit (auf Youtube „Ai Weiwei Dumbass) mit schnellen Schnitten und schräger chinesischer Musik ästhetisiert albtraumartig seine Erfahrungen und Fantasien.
Nicht alle Werke der Ausstellung kann man ohne Infos enträtseln, wie die mit Autolack übersprühten antiken Vasen der Han-Dynastie. Sie verweisen auf den ignoranten Umgang der Chinesen mit ihrer Kultur und sprechen vom Fortschrittswahn, der die Wurzeln verdrängt und vergisst. Doch viele Objekte lassen sich durch eigene Assoziationen erschließen, wie das „Souvenir aus Shanghai“: Ein kleines, aus Steinbrocken und Trümmern errichtetes Gebäude kann nicht betreten werden, weil der reich verzierte Holzeingang mit steinernem Schutt verschlossen ist. Das Objekt weckt Gefühle von Ausgrenzung oder Eingemauert-Sein. Ohne dass man um die Bedeutung weiß, wirkt es verstörend (es sind die Reste des in Shanghai von „Sicherheitskräften“ willkürlich zerstörten Ateliers des Künstlers).
12 goldene Tierkreiszeichen wirken zunächst einfach nur als „schöne“ autonome Skulpturen aus vergoldeter Bronze, changierend zwischen klassischer Gestaltung und moderner Interpretation. Jedoch verweisen diese scheinbar gefälligen Objekte auf Raubkunst, ein auch in Deutschland gerade hochaktuelles Thema.
Nach einem langen Rundgang mit offenen Augen kann man erkennen: „Ai Weiwei verwandelt sein Leben in Kunst, wendet die Dinge, die ihm begegnen, und die Ereignisse, die ihm widerfahren, in künstlerische Statements.“ (Kuratorin)
Bis zum 7. Juli 2014 ist die Ausstellung Mittwoch bis Montag von 10 – 20 Uhr geöffnet.