Die große Illusion.Veristische Skulpturen und ihre Techniken ab Oktober im Liebieghaus in Frankfurt am Main, Teil 3
Hubertus von Bramnitz
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Auch die Verwendung von Haarapplikationen in verschiedenen Epochen für die lebensechte Wirkung der Skulpturen lässt sich in der Ausstellung in mehreren Räumen eindrucksvoll nachvollziehen: ob anhand spätgotischer Skulpturen (Nationalmuseum, Warschau; Musée de Cluny, Paris) oder von Figuren des 17. bis 19. Jahrhunderts aus Holz, Pappmaschee oder Wachs aus verschiedenen öffentlichen und privaten Sammlungen sowie kirchlichem Besitz, aber auch einiger Beispiele unserer Zeit.
Sogar eine ägyptische Mumienmaske aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert mit einer aus Baumwolle gefertigten Perücke wird zu sehen sein (Ägyptisches Museum, Berlin).
In den Ausstellungsräumen des Klassizismus wird die vielfältige Verwendung der Materialien Ton, Gips und Wachs sowie deren erstaunliche veristische Wirkung ersichtlich. Da die Werkstoffe nicht nur frei modelliert, sondern auch in Formen gedrückt oder in Hohlformen gegossen werden können, eignen sich diese besonders für Körper- und Gesichtsabdrücke. Die sich bis heute fortsetzenden Traditionen in diesem Bereich werden in der Ausstellung mit Leihgaben von Werken zeitgenössischer Künstler eindrücklich aufgezeigt. Lebendig anmutende Tonarbeiten, etwa des italienischen Bildhauers Guido Mazzoni (1450–1518), stehen dem Werk Duane Hansons (1925–1996) – in der Ausstellung vertreten mit dem aus Polyesterharz gefertigten Seated Child (1974, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam) – oder dem aus Silikon gestaltetem Man in a Sheet (1997, Privatbesitz, Berlin) des australischen Bildhauers Ron Mueck (*1958) gegenüber. Flankiert werden diese von Wachsbüsten des 17. bis 19. Jahrhunderts, die geradezu fotografische Qualitäten zu besitzen scheinen.
Das Phänomen der täuschend echt erscheinenden Skulptur fasziniert die Betrachter seit jeher. Dies war oftmals auch die angestrebte Wirkung der Werke, die im Rahmen von Prozessionen oder – in Präsentation mit anderen Figuren – als Teil von Altären bei besonderen Festtagen zu sehen waren. Bisweilen kam den Skulpturen gar Stellvertreterfunktion zu, und sie repräsentierten den Dargestellten. Diese unterschiedlichen Rollen der
heute meist aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissenen Skulpturen lassen sich kaum mehr kontextualisieren; die bewusste Inszenierung und die damit erzielten Effekte waren allerdings stets Teil ihrer ursprünglichen Intention.
Während das Bedürfnis, Figuren möglichst lebensnah erscheinen zu lassen, Künstler seit Jahrhunderten antreibt, spielten die veristische Skulptur und ihre technische Realisierung in der Kunstgeschichte bislang eher eine untergeordnete Rolle. Die entscheidend durch den Kunstbegriff der italienischen Renaissance und der darauf fußenden Ästhetik des Klassizismus beeinflusste Vorstellung der Skulptur als reine Form hat eine ihrer Wurzeln in der fälschlicherweise angenommenen weißen Marmorfigur der Antike. So wurden im 16. und 17. Jahrhundert gezielt farbige Skulpturen des Mittelalters diskreditiert. Dennoch blieb stets ein großer Teil der Bildhauerei farbig und realistisch orientiert. Die Entstehung von Wachsfigurenkabinetten und Panoptiken im 18. und 19. Jahrhundert verstärkte die Kritik an realistischen farbigen Skulpturen noch. Der bis ins 18. Jahrhundert unter Bildhauern weitverbreitete plastische Werkstoff Wachs verschwand in dieser Zeit als anerkanntes künstlerisches Medium fast vollständig. Mit dem Aufkommen zeitgenössischer hyperrealistischer Skulpturen und herausragender Bildhauer, die mit ihren realistische Form, Vielfarbigkeit und Realien verbindenden Werken erstmals wieder breitere positive Resonanz erfuhren, wird dem jahrtausendealten Phänomen auch kunsthistorisch wieder größere Aufmerksamkeit zuteil. Nicht zuletzt aus diesem Grund präsentiert diese Ausstellung eine ebenso fundierte wie einmalige Zusammenstellung veristischer Skulpturen, die mit ihrer illusionistischen Kraft und den vielfältigen Techniken einen spannenden Blick auf die Geschichte und Entwicklung der Skulptur in all ihren Facetten eröffnen.
INFO:
Die große Illusion.Veristische Skulpturen und ihre Techniken
1. Oktober 2014 bis 1. März 2015
Liebieghaus Skulpturensammlung Frankfurt am Main
Kurator: Stefan Roller (Leiter der Mittelaltersammlung, Liebieghaus Skulpturensammlung)
Architektur: Bach Dolder Architekten, Darmstadt
Katalog: Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog im Hirmer Verlag, herausgegeben von Stefan Roller, mit Beiträgen von Vinzenz Brinkmann, Maraike Bückling, Stefan Roller und Harald Theiss. Dt. Ausgabe, ca. 260 Seiten, ca. 240 Farbabbildungen, Museumsausgabe 34,90 Euro, Buchhandelsausgabe ca. 44,90 Euro.
Weitere Publikation: Zur Ausstellung erscheint ein Begleitheft, 7,50 Euro.
Audiotour: Durch die Ausstellung führt eine Audioguide-Tour, deutsch und englisch, 4 Euro.
Öffentliche Führung durch die Ausstellung: donnerstags 18.00 Uhr, samstags 16.00 Uhr und sonntags 15.00 Uhr, die Teilnahmezahl ist begrenzt, Tickets sind ab zwei Stunden vor Beginn an der Kasse erhältlich, 5 Euro.
Rahmenprogramm: Höhepunkte sind u. a. Vorträge im Rahmen der Reihe „Aus erster Hand“: Donnerstag, 11. September 2014, 18.30 Uhr, Faszination Verismus. Eine Vorschau auf die Ausstellung „Die große Illusion“, Vortrag von Dr. Stefan Roller, Leiter der Mittelaltersammlung des Liebieghauses; Donnerstag, 6. November 2014, 19.00 Uhr, Dunkles Mittelalter? – Die Farbrekonstruktion einer spätgotischen Skulptur, Vortrag von Dipl.-Rest. Harald Theiss, Leiter der Abteilung Restaurierung. Die Vorträge sind im Eintrittspreis enthalten, eine Voranmeldung ist erforderlich: 069-605098-200, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
Weitere Programmangebote unter www.liebieghaus.de.
Sonderführungen auf Anfrage: +49(0)69-605098-200, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
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