Serie: Jugendstil. Die große Utopie ab 16. Oktober im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Teil 3
Lona Berlin
Hamburg (Weltexpresso) – Wenn wir heute glauben, wir lebten in sich rasant verändernden Zeiten, so ist das nichts dagegen, wie es die Menschen im 19. Jahrhundert aus den Schuhen riß, als Mechanisierung und Elektrifizierung den Alltag durcheinanderwirbelten und das Wichtigste war, nicht Sklave der neuen Technologien zu sein, sondern Beherrscher. Das kommt uns bekannt vor und gilt auch für die Kunst.
Gegenüber dem Körperkult, der sich in dem Ausdruck der befreite Körper äußerte, interessierten sich andere Künstler weniger für sich selbst und ihr Leben auf der Welt, sondern waren von den neuen Technologien der Industriegesellschaft fasziniert und suchen hier Impulse für ihr Schaffen. Die Elektrifizierung des Alltags, insbesondere das neue Licht und der Film, werden wichtige Träger der Moderne. Aber sie bleiben immer am Menschen.
Die Lichtfee Loïe Fuller setzt mit ihrem Serpentinentanz neue Maßstäbe für das Erlebnis Tanz: Sie verwendet schleierartige Gewänder, auf die sie nach genauer Regie Licht projiziert. Für das Auge entsteht ein ständiger Wechsel abstrakter Formen und Farben. Zu Beginn des Medienzeitalters wird Fuller so zum Symbol des Flüchtigen und Momenthaften. Im Film wird alles möglich, proklamiert Georg Lukács. Die neue Technik entwickelt sich von der Jahrmarktsunterhaltung zur Dokumentations- und Kunstform. Bei den Brüdern Lumière oder George Méliès wird die Illusionsmaschine zum Träger utopischer Entwürfe.
Die spektakuläre Entdeckung der Röntgenstrahlung 1895 macht den Körper transparent und gibt dem menschlichen Innern ein Bild. Zeitgleich wird ein anderer Blick ins Innere geworfen: Sigmund Freud revolutioniert das Verständnis von der menschlichen Psyche. Das kulturelle Bild der Seele wird geprägt von Sprachfiguren der antiken Mythologie. So zeigt die Ausstellung antike Objekte aus Freuds eigener Sammlung neben Fernand Khnopffs „Hypnos“, Odilon Redons Gemälde „Die Barke“ und Annie Brigmans sowie Clarence Hudson Whites mythisch verklärten Heliogravüren. Deren gewählte Unschärfe wird zum stimmungsvollen Bedeutungsträger. Die Natur des Menschen zu ergründen bedeutet vor allem in Wien um 1900 die Ergründung der Sexualität. Das Spannungsfeld des Geschlechterkampfes wird zwischen Aktzeichnungen Gustav Klimts und Grafiken Edvard Munchs sowie ausgewählten Gemälden von Künstlerinnen wie Elena Luksch-Makowsky oder Broncia Koller-Pinell aufgespannt.
Die Frage nach dem Lebensglück bewirkt ein neuartiges Verhältnis zum Materiellen, das sich nicht nur auf Marx, sondern auch auf Friedrich Nietzsches betont diesseitige Weltanschauung stützt. Sein Kultbuch „Also sprach Zarathustra“ (1883-1885) wird sehr verehrt. Der Einsiedler Zarathustra, der den Menschen seine Lehre vom Übermenschen bringt, bietet Identifizierung gerade für reformerische Künstler. In seiner Kulturkritik proklamiert Nietzsche unter anderem den Tod Gottes. Max Klingers Nietzsche-Porträtbüste steht Werken gegenüber, die Nietzsches Schriften in eine visuelle Form überführen. So zeigt die Ausstellung Peter Behrens‘ zarathustrischen Salonflügel aus dem Haus Behrens auf der Darmstädter Mathildenhöhe ebenso wie Henry van de Veldes Buchkunst zu zentralen Schriften Nietzsches oder Hodlers „Blick ins Unendliche III“.
Die elegante Ästhetik des Jugendstil-Designs wird zunehmend zum Aushängeschild qualitativ hochwertiger Produkte. Bereits Morris‘ Werke sind als teure Liebhaberstücke einer wohlhabenden Käuferschicht vorbehalten. Hersteller moderner Konsumgüter und Theater reagieren auf die Wünsche des Marktes. So prägen die führenden Plakatkünstler der Affichomanie Frankreichs bis heute unseren Blick auf den Jugendstil. Die Ausstellung zeigt in einer eigens dem Plakat und der Reklame gewidmeten Galerie Spitzenwerke etwa von Eugène Grasset, Henri de Toulouse-Lautrec und Alfons Mucha. Ihre Arbeiten setzen auf Japonismen und orientalische Subtexte, hypnotische Blicke, sinnliche Frauen und Dandys. Ihnen gegenüber stehen die modernen Tendenzen aus München und Wien, die einer rationaleren Auffassung folgen. Dem Ausstellungsplakat ist mit einer Reihe von Salon des Cent-Plakaten besonderes Gewicht gegeben. Fortsetzung folgt.
Info:
Ausstellung vom 16. Oktober bis 7. Februar 2016 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Künstler:
Emile Bernard, Edward Burne-Jones, Peter Behrens, Carlo Bugatti, Mariano Fortuny, Loïe Fuller, Emile Gallé, Paul Gauguin, Karl Gräser, Josef Hoffmann, Gustav Klimt, Fernand Khnopff, René Lalique, Elena Luksch-Makowsky, Charles R. Mackintosh, Madame D`Ora, Louis Majorelle, Paula Modersohn-Becker, William Morris, Alfons Mucha, Richard Riemerschmid, Dante Gabriel Rossetti, Louis C. Tiffany, Henry van de Velde und viele andere.
Katalog zur Ausstellung
Zur Ausstellung erscheint der Katalog „Jugendstil. Die große Utopie“, herausgegeben von Sabine Schulze, Claudia Banz und Leonie Beiersdorf, mit Beiträgen von Nora von Achenbach, Claudia Banz, Leonie Beiersdorf, Jürgen Döring, Thomas Gilbhard, Simon Klingler, Angelika Riley, Esther Ruelfs, Sabine Schulze und Sven Schumacher. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2015, 208 Seiten, über 200 farbige Abbildungen, 19,80 Euro