Serie: Jugendstil. Die große Utopie ab 16. Oktober im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Teil 2
Lona Berlin
Hamburg (Weltexpresso) – Der Jugendstil als Massenphänomen ist vor allem in seinen Unterschieden hochinteressant. Denn das gleiche Begehren nach Veränderung brachte unterschiedliche Blüten in den einzelnen Zentren der Bewegung hervor. So konnte es kommen, daß sich beispielsweise der Münchner Jugendstil fundamental vom Wiener Jugendstil unterscheidet. Wie fing alles an?
Die Sonderausstellung
Die Künstler des Jugendstils begehren auf gegen die noch neue Konsumkultur, gegen die standardisierte Massenware minderer Qualität, die zum Teil unter prekären Umständen produziert wird. An deren Stelle sollen hochwertige Produkte treten, deren Schönheit die Lebensqualität des Menschen in seinem Alltag hebt. An der Speerspitze der englischen Arts & Crafts-Bewegung legt der Designer und Theoretiker William Morris den Grundstein für die Reformbewegungen um 1900. Der überzeugte Sozialist erschafft in seinen Stoff- und Teppichentwürfen, die nach alten Techniken mit der Hand statt der Maschine gefertigt wurden, eine Gegenwelt zur britischen Textilindustrie.
Mit der Tapisserie „Der Pilger und die Rose“ wird die Poesie der mittelalterlichen Kultur beschworen. Morris‘ ganzheitlicher Anspruch auf Qualität vom Schriftentwurf bis zur Handpresse führt auch zur Renaissance der Buchkunst. In der utopischen Novelle „News from Nowhere“, „Kunde von Nirgendwo“, die dem Auftaktkapitel seinen Namen gibt, entwirft Morris ein sozialistisches Lebens- und Arbeitsideal. Hier ist auch der selten gezeigte „Kelmscott Chaucer“ zu sehen, der zu den schönsten Exemplaren der Buchkunst des Arts & Crafts gehört. Verführerische Schönheit wird zum zentralen Anliegen dieses englischen Ästhetizismus um 1900. Gabriel Charles Rossetti huldigt ihrer Ambivalenz in dem Gemälde „Helena von Troja“.
Neben dem Mittelalter definieren moderne Künstler um 1900 auch andere, von der „Zivilisation“ vermeintlich „unberührte“ Sehnsuchtsorte wie die Südsee. Die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit prägt etwa die Kinderporträts von Ferdinand Hodler und Paula Modersohn-Becker. Ein Vitrinenschrank, Malerei, Grafik und selten gezeigte Keramiken von Paul Gauguin sind Ausdruck dieser aktiven oder imaginären Zivilisationsflucht, mit der die Hoffnung auf ein authentischeres Leben verbunden wird. Auch der kulturelle Dialog mit dem Kunsthandwerk Japans spielt eine wichtige Rolle und zieht sich als Thema Inspiration Japan durch die Ausstellung, etwa in Carl Otto Czeschkas kimono-ähnlichem Gewand, dessen grafisches Muster das Meeresthema der japanischen Färbeschablonen zitiert.
Der befreite Körper, dessen Kontur nicht mehr durch steife Mode und Korsett definiert wird, äußert sich in der Reform der Frauenmode mit edlen Roben von Mariano Fortuny oder der Erfolgsmarke Liberty. Die „Gesundung“ des „nervösen“ Stadtmenschen in der Natur wird ab etwa 1890 in europäischen Lebenskommunen geradezu kulthaft verfolgt. Hygienische und ästhetische Diskurse setzen auf eine Befreiung, Ertüchtigung und Pflege des Körpers als Tempel der Seele. Der Suche nach größtmöglicher Natürlichkeit steht die ästhetische Optimierung durch „Muskelschönheit“ gegenüber. Licht und Bewegung werden zu Leitbegriffen der Lebensreform, Sonnenlicht soll sogar über die Nahrung einverleibt werden, Nacktheit gilt als gesellschaftspolitische Emanzipation. Dem „Wurzelsessel“ des Schweizer Lebensreformers Karl Gräser steht in der Ausstellung ein elektrisches Lichtbad gegenüber, das mittels Glühbirnen auch dem Städter erlaubte, an der heilsamen Lichtmedizin teilzuhaben. Fortsetzung folgt
Info:
Ausstellung vom 16. Oktober bis 7. Februar 2016 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Künstler:
Emile Bernard, Edward Burne-Jones, Peter Behrens, Carlo Bugatti, Mariano Fortuny, Loïe Fuller, Emile Gallé, Paul Gauguin, Karl Gräser, Josef Hoffmann, Gustav Klimt, Fernand Khnopff, René Lalique, Elena Luksch-Makowsky, Charles R. Mackintosh, Madame D`Ora, Louis Majorelle, Paula Modersohn-Becker, William Morris, Alfons Mucha, Richard Riemerschmid, Dante Gabriel Rossetti, Louis C. Tiffany, Henry van de Velde und viele andere.
Katalog zur Ausstellung
Zur Ausstellung erscheint der Katalog „Jugendstil. Die große Utopie“, herausgegeben von Sabine Schulze, Claudia Banz und Leonie Beiersdorf, mit Beiträgen von Nora von Achenbach, Claudia Banz, Leonie Beiersdorf, Jürgen Döring, Thomas Gilbhard, Simon Klingler, Angelika Riley, Esther Ruelfs, Sabine Schulze und Sven Schumacher. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2015, 208 Seiten, über 200 farbige Abbildungen, 19,80 Euro