Serie: Ferdinand Hodler, Aleksandr Dejneka und Neo Rauch in der Hamburger Kunsthalle, Teil 3/3

 

Claudia Schulmerich

 

 

Hamburg (Weltexpresso) – Steile These: „Im Mittelpunkt der Ausstellung MÜDE HELDEN: FERDINAND HODLER – ALEKSANDR DEJNEKA – NEO RAUCH steht die Entwicklung der Utopie des 'Neuen Menschen' im 20. Jahrhundert. Im Werk der drei Maler dieser Ausstellung wird die Geschichte dieses Ideals wie in einem Brennspiegel gebündelt reflektiert.“

 

Schon in der Ausstellung kann man der Bildmacht, mit der die These vor Augen tritt, kaum entgehen. Nach Reflektieren und Lesen des Katalogs noch weniger. Wobei das Auffällige ist: Neo Rauch würde man nicht unbedingt direkt auf Ferdinand Hodler beziehen, aber unmittelbar auf Aleksandr Dejneka. Dejneka dagegen ergibt sich bildhaft direkt aus Hodlers Menschenmalerei – mit manchmal so überraschenden Korrespondenzen, daß man sich fragt, wieso einem das nicht schon früher aufgefallen ist. Ist es aber nicht.

 

Und so schlußfolgert man: Neo Rauch ist über seine Anverwandlung von Formen und Inhalten des russischen Künstlers so auch auf einmal ein künstlerischer Nachfahre des Schweizers geworden, dem die Ausstellung die gemeinsame Utopie vom „Neuen Menschen“ unterschiebt, gut erklärbar aus der Lebensreform mit Naturemphase bis hin zu Rousseau, noch einsichtiger das Neue Menschenbild beim Kommunisten Dejneka, wobei Neo Rauch nach dem Ende des Kommunismus seine Variante als Antifortschrittsgläubigkeit ins Nichts laufen läßt.

 

„Von Jena nach Petrograd“ nennt Katalogautor Markus Bertsch seinen Vergleich der Prinzipien von Rhythmus, Reihung und Parallelismus bei Hodler und Dejneka – und sieht man die Hodlersche Vorlage „Auszug der deutschen Studenten in den Freiheitskrieg von 1813, 1908/09 gemalt, Öl auf Leinwand, 358 x 546 Zentimeter, in der Aula der Universität in Jena, in Hamburg zumindest als Zeichnung und dann mit eigenen Augen Dejnekas „Die Verteidigung von Petrograd, 1927/28“, 210 x 238 Zentimeter, dann schlägt einem die gleiche geballte Kraft entgegen, aber auch ein von der Anlage her annähernd identisches Bild, das seitenverkehrt und das Oben und Unten vertauscht hat. Dichotomisch benutzen beide die Welt als oben und unten.

 

Bei dem Russen marschieren die Soldaten unten mit geschulterten Gewehren nach rechts unten, wo sie bei Hodler je zu dritt oben nach Links schreiten. Sind es bei Hodler unten die feinen jungen Herren, die Kavallerie, sind es bei Dejneka oben die gebeutelte Zivilgesellschaft auf der Brücke, fast geknickt vom Wind – oder vom Leben und der Verteidigung. Diesem Zweier wird Neo Rauchs „Aufstand“ aus dem Jahr 2004 gegenübergestellt. Schwierig. Das Bett, in dem einer schläft, ist als Bildteilung übrig geblieben, aber die farbbeutelschwingenden Jungmänner – es kann auch Plastilin sein – tragen zwar uniform weiße Hosen und rote Obergewandung, aber halt keine Uniform. Was bleibt, hier allerdings nur auf Dejneka bezogen, ist eine gewisse monumentale Körperlichkeit. Nicht dick, aber voluminös, wie mit tiefem Durchatmen und dann Luft anhalten, also leicht aufgeblasen.

 

Überzeugender sind uns dann ganz andere Vergleiche. Wenn Hodlers Kompositionsstudie von 1907/08 „Jena“ auf ein rotstichiges Rauch-“Modell“ von 1998 trifft, dann sind da graphische Bezüge, die einfach stimmen. Noch stärker, wenn bei Themen wie Industrie und Arbeit Neo Rauchs Bilder auf einmal wie farbgewordene konstruktivistische Zeichnungen erscheinen und sich geradewegs auf den russischen Maler zu beziehen scheinen. Übrigens immer wieder auch farblich, in der Vorliebe für Rostrot. Und dann bleiben wir doch wieder bei den Menschen hängen, diese kompakten Figuren, die anpacken können und es auch tun. Bei Neo Rauch allerdings sehen die Tätigkeiten wie ein Perpetuum Mobile aus, so als ob es Leinwandfiguren a la der sinnlosen Technik von Jean Tinguely seien. Bei Aleksandr Dejneka dagegen, ist jeder Schritt ein Fortschritt.

 

Zur Exaltiertheit der Bewegungen gibt es erst recht Korrespondenzen von Hodler und seinem russischen Verwandten. Kann im „Fröhlichen Weib“ diese im Ausdruckstanz der Zeit ihre Glieder recken und strecken, erfolgt die äußerst schwungvolle Bewegung bei Dejneka aus dem Diskuswerfen heraus. Die Einheitlichkeit beim „Wettlauf“ der Damen, die nackten voluminösen Frauenleiber in Hodlers „Die Quelle“ von 1904-10 und „Ballspiel“ des Russen von 1932, ach was, wir sind längst überzeugt, daß Hubertus Gaßner und seinen Mitstreitern ein intellektuell reizvolles Spiel gelungen ist, das darüber hinaus kunsthistorisch Pflöcke eingeschlagen hat, die nicht mehr zu umgehen sind.

 

Daß auf diesem Wege Aleksandr Dejneka für viele erst zu entdecken ist, dieser kraftvolle und abwechslungsreiche Künstler aus schwierigen Sowjetzeiten, ist als Nebengabe sehr willkommen, wie es auch fast Genugtuung bedeutet, daß die rätselhaften, bedeutungsresistenten Bilder von Neo Rauch auf einmal eine Abstammung haben. Wir können nur noch Neo Rauch fragen, was er von der Verwandtschaft hält. Hodler ist bald ein ganzes Jahrhundert tot und Dejneka schon über vierzig Jahre. Eine richtig aufregende Ausstellung in Hamburg!

 

bis zum 13. Mai 2012

 

Katalog: Müde Helden. Ferdinand Hodler, Aleksandr Dejneka, Neo Rauch, hrsg. Hubertus Gaßner u.a., Hirmer Verlag 2012. Den Titel ziert Neo Rauchs kopfverbundener Jüngling, dem auf dem Frontblatt ein sehr müder Held folgt, der auf dem Sessel wie ohnmächtig hingesunken der Puls gemessen wird, durchaus eine Bevorzugung von Neo Rauch, die sich im Katalog selbst wie in der Ausstellung auflöst zum Dreiklang. Dem Katalog vorgeschaltet sind Themen der Ausstellung wie HELDEN, NEUE KÖRPERLICHKEIT, ARBEIT und DER Neue Mensch, zu denen die Referenzbilder der drei Maler in Kleinausschnitten zugeordnet sind, so wie sie auch in den Räumen der Ausstellung im Miteinander hänge. Sagen wir es so, in der Kleinheit sind die Übereinstimmungen und Anverwandlungen noch viel auffälliger als an den Museumswänden, wo die großen Formate schon die Augen auf einem einzigen Bild festhalten. Es korrespondiert diese Auflistung exakt mit der Hängung im Museum.

 

Darüber hinaus sind es natürlich die ESSAYS, die kunsthistorisch den Weg vom Fin de Siècle zur Aufbruchstimmung der Lebensreformer um 1900 und ihrem Bild gewordenem Impetus nachverfolgen. In einer eigenen DOKUMENTE-Reihe werden die Theorien vom Neuen Menschen zusammengefaßt bis hin zu seinem Gegenteil: „Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft der Gegenwart“ von Alain Ehrenberg und „Müdigkeitsgesellschaft“ von Byung-Chul Han.

 

Die Tafeln der drei Maler sind in thematischer Unterordnung der vier Bereiche mit je einem längeren Vorwort ohne weitere Kommentierung ganzseitig abgedruckt. Sehr gute Bildqualität! Die drei Biographien am Schluß liest man – nach der Ausstellung und dem Katalogstudieren – anders, als man es im Vorhinein getan hätte.

 

www.hamburger-kunsthalle.de