Ein Erschließungsversuch anlässlich seines 50. Todestages am 12. 4. 2012
von Alexander Martin Pfleger
Erwin Guido Kolbenheyer (1878 – 1962) scheint zu den Altlasten der Literaturgeschichte zu zählen. Ihn als „umstrittenen“ Autor zu bezeichnen, würde gewiß eine allzu positive Umschreibung seiner gegenwärtigen Rezeptionslage bedeuten. „Umstrittenheit“ setzt voraus, daß zwei oder mehr letzten Endes gleichberechtigte Parteien für oder wider einen Dichter und Denker streiten, dessen Werk sich eines allgemeinen Interesses erfreut und mit dessen Gedanken man sich auseinandersetzt.
„Durch dich, stets erneut aus dem Urborn quellend,
Dein Bewußtseinsspiel (seine Liebeslaune)
Gunstvoll spendend, geht wie die fernste Gottheit
Weiter das Leben.
Rings die Welt, ein Reich unter deines Geistes
Kühne Lust getan, ja ihr tiefstes Wesen
Nichts als Geist vom Geist, der allein dir eignet,
Träumst du, du Träumer!
Tanze Sonnenring, und entzüngle, Flamme,
Wellenglitzern, du, über dunklen Strömen!
Durch dich, stets erneut aus dem Urborn quellend,
Flutet das Leben.“
Kolbenheyer hingegen ist seit 1945 weitgehend abgestempelt als Blut-und-Boden-Barde und Nazidichter, als Vertreter eines kruden, biologistisch verbrämten Mystizismus´, als intriganter Totengräber der alten Preußischen Akademie für Dichtkunst und Profiteur des NS-Regimes, der sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs als „Ewig-Gestriger“ gerierte und als frei von aller Schuld erklärte, Autorenkollegen der Äusseren wie der Inneren Emigration (Thomas Mann, Hermann Hesse, Ernst Wiechert) mit Hohn und Häme überzog und die nationalsozialistische Bewegung als historisch notwendig und ihren Führer Adolf Hitler als gescheiterten Idealisten zu rechtfertigen bestrebt war, dessen Scheitern (inklusive der Verbrechen unter seiner Herrschaft) allein einigen Hasardeuren in seinem Gefolge sowie seiner fortschreitenden nervlichen Zerrüttung zuzuschreiben sei.
Wendet man sich mit entsprechenden Vorkenntnissen erstmals seinem Werk zu, wird man mit Erstaunen feststellen, wie wenig seine Romane, Erzählungen, Dramen und Gedichte mit dem möglicherweise selbstverschuldeten Schreckbild gemein haben, das man sich gemeinhin von ihrem Schöpfer zu machen pflegt. „Werkchen der bienenbraven Heimatliteratur“, wie er einmal anlässlich der Fehldeutungen seines zweiten Romans „Meister Joachim Pausewang“ durch die Kritik spöttisch sagte, findet man bei ihm ebensowenig wie episch camouflierte nationalistische Hetzschriften.
„Tausend müssen sinken und sterben,
Daß einer werde,
Einer, zum kampfgehärteten Erben,
Auf strenger Erde.
Keiner über den anderen allen,
Der es genösse,
Einer, auf den das Los gefallen,
Der es erschlösse.
Tausend müssen bluten und streben,
Daß einer baue,
Blicke verdürsten aus tausend Leben,
Daß einer schaue.“
Die Grunderfahrungen, die Kolbenheyer artikuliert, die zentralen Themen, die ihn durch sein Gesamtwerk hin beschäftigten, sind eng verbunden mit geistigen Auseinandersetzungen der literarischen Moderne bis zurück zu Goethe, zu Kleist und zur Romantik: die Frage, inwiefern dem Individuum, beschränkt durch seine monadische Existenz, überhaupt Erkenntnis der Welt oder auch nur Zugang zu einem anderen Individuum möglich sei; wie sich das Bewusstsein erklären und wie sich „moderne“ naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit tradierten religiösen und philosophischen Vorstellungen in Einklang bringen lassen (oder auch nicht); die Suche nach dem verlorenen Paradies schließlich – im Bewußtsein, daß es kein einfaches „Zurück“ zu einem idealen oder auch nur idealisierten Urzustand gibt:
„Aber das Leben,
Dem Lichte gebreitet,
Ihm stetig geweitet,
Nimmer kehrt es
Zum Ursprung zurück.“
Also formulierte es Wotan der Wanderer im Vorspiel „Mythus“ zu Kolbenheyers dramatischem Spätwerk, der Tetralogie „Menschen und Götter“.
In all´ seinen Werken gestaltet Kolbenheyer letzten Endes „faustische“ Naturen, denen es darum zu tun ist, die erstarrten Dogmen und Rituale ihrer Zeit zu überwinden und geistiges Neuland zu erschliessen – Meister Eckart, Luther, Jakob Böhme, Spinoza, Paracelsus, Giordano Bruno, Goethe. „Unfertige, Unfriedsame, die bleiben über, die müssen weiter... immer weiter. Suchen und suchen!“, wie er es im vierten Teil von „Menschen und Götter“, dem „Hellweg“, die Figur des Veit Keuper sagen lässt.
Dergestalt rastlos Strebende fänden bisweilen etwas, das den anderen, die leichter müde würden, zur Hilfe gereiche und ihnen Trost spende. Eine durchaus tragische Ironie dürfte darin liegen, daß Kolbenheyer dereinst auch ermüdete und Rast und Trost in seiner quasi-biologistischen „Bauhüttenphilosophie“ fand – einem Versuch, die bisherige abendländische Metaphysik naturwissenschaftlich zu erden und als blosse Ausprägung eines im Laufe der Jahrtausende durch entsprechende Verfeinerungen oder, in seinen Worten, „Anpassungsleistungen“ der „weißen Menschheit“ entwickelten Triebes zu verifizieren. Wiewohl Kolbenheyer stets betonte, daß die „Bauhütte“ lediglich der Ort sei, an dem die Pläne für die grossen Dome des Mittelalters entworfen würden, nicht jedoch bereits der ausgeführte Dom, drängt sich unweigerlich der Verdacht auf, daß für ihn seine „Bauhüttenphilosophie“ weniger einen Zwischenhalt als vielmehr bereits die Endstation bedeutete, deren Perspektivik er die Deutung seines Gesamtwerks unterwarf. Womöglich ist es primär Kolbenheyers quasi-biologistischer Wende oder besser gesagt: Verengung in seiner „Bauhüttenphilosophie“ ab Mitte der 1920er Jahre geschuldet, daß sein Werk heutzutage unter dem Generalverdacht des Irrationalistischen und Antiintellektualistischen steht.
„Viele Herzen gehen –
Durch mich hindurch bei Jahr und Tag.
Viele Augen sehen –
In mich hinein, was jeder mag.
Über allen weben –
Die Sterne den gebundnen Sinn.
Hundertfältig Leben –
Es ruft mich an und rafft mich hin.
Ahnt ihr meine Quelle?
Sie flutet in des Stromes Gang.
Seid ihr meine Welle –
So ich im Strom der leise Klang.
Unser ist die Stunde –
Unser bin ich auch bereit.
Aus dem dunklen Grunde
Sprüht ein Korn der Ewigkeit.“
Aber muss dies bereits das letzte Wort sein? Ungeachtet dogmatischer Verengungen völkischer Ideologeme und einer häufig mehr als nur bedenklichen Nähe der Kolbenheyer´schen Terminologie zur Sprache der Nationalsozialisten eignet seinem Werk stets eine „planetare“ Perspektive, die die gesamte Menschheit ins Auge fasst und nach Antworten jenseits staatlicher oder gar „rassischer“ Beschränkungen sucht. Auch wenn er zeitweise das „Dritte Reich“ des Adolf Hitler mit dem „Dritten Reich des Paracelsus“ verwechselt oder gar gleichgesetzt haben dürfte – auf einen einfachen Nenner lässt sich sein umfangreiches Schaffen kaum bringen. Kolbenheyer reizt zum Widerspruch, und Kolbenheyer birgt auch zahlreiche Widersprüche: dezidiert antichristlichen Positionierungen stehen konsequente Rückgriffe auf die Bilder- und Gleichniswelt der jüdisch-christlichen Überlieferung gegenüber; der allem herkömmlich „Metaphysischen“ abholde Propagandist „moderner“ Naturwissenschaften kultiviert einen Begriff der „Sehnsucht“, dessen unmittelbare Herkunft aus der Romantik unverkennbar ist; der ätzende Polemiker wider das „Internationale“ schließlich zeigt gleichwohl eine Utopie des „Übervölkischen“ auf.
„Tiefstes Menschenglück auf Erden,
Seines Ichs getürmter Mauern
Im Verschenken frei zu werden,
Sich im Du zu überdauern
Und im Du zu Überweiten:
Ich zum Selbst, im Lebensspiegel
Wellenkräuselnd, auszubreiten
Das Geheimnis sonder Siegel.
Ein Geheimnis, das geborgen
Ruht in tausendfältgem Leben,
Jedem als der eigne Morgen,
Jedem als sein Eigenstreben:
Selbst in vielen Ich zu werden,
Ich und Du in Eins versenken...
Tiefstes Menschenglück auf Erden:
Auferbauend sich zu schenken.“
Das Werk Erwin Guido Kolbenheyers von seinen Brüchen her neu zu deuten und unbefangen zu betrachten, könnte ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod vielleicht am besten über eine vertiefte Beschäftigung mit seiner Lyrik erfolgen, die meist im Schatten seiner anderen Schaffensbereiche stand. Seine Gedichte lassen sich zwar auch im Sinne seiner „Bauhüttenphilosophie“ interpretieren, bedürfen dieser Lesart jedoch nicht: Weit mehr als blosse Illustrationen der ideologischen Verkrustungen ihres Verfassers, manifestieren sich in ihnen die Wahrheitsmomente seines Denkens und dessen humaner Kern, den freizulegen es immer noch gilt.
„Aus tiefem Born bist du gebor´n.
Von Urwelt her lebt deine Welt.
Erstirb, an keinen Tod verlor´n,
Brücke du, Weg du und Feld!
Über dich hin, durch dich muß geh´n,
Was Frucht vom Baum wird fallen seh´n,
Selber nur Fleisch und Kern,
gesät auf den rollenden Stern.“
Anmerkung der Redaktion: Der vorliegende Beitrag erschien bereits in einer kürzeren Fassung in der Märzausgabe des Jahres 2012 der „Wiener Sprachblätter“ und stellt eine Vorstudie zu einer ausführlicheren Untersuchung dar, die für die "Literaturwissenschaftliche Jahresgabe der Josef Weinheber-Gesellschaft" geplant ist.